Direkte Demokratie im Lockdown
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Bürgerbeteiligung

Lockdown der direkten Demokratie

Nicht nur Parteien haben es in diesen Tagen schwer, ihre Botschaften und Diskussionen zu vermitteln. Parteitage werden reihenweise abgesagt. Auch kommunale Bürger­entscheide und Volksinitiativen stehen vor besonderen Herausforderungen.

Infostände vor Supermärkten und in Fußgängerzonen? Derzeit unmöglich. Kostümierte Aktivisten, die Passanten mit einer Unterschriftenliste in der Hand ansprechen, eine politische Diskussion am Infostand durchführen, auf eine Volksinitiative oder auf ein Bürgerbegehren aufmerksam machen? In der Coronazeit undenkbar. Die Corona-Pandemie sorgt nicht nur für den zweiten Lockdown in der Gastronomie und Hotellerie. Sie sorgt auch für einen Lockdown der direkten Demokratie.

In Pandemiezeiten ist direkte Demokratie schwer

„Die Corona-Pandemie behindert ganz sicher das Sammeln von Unterschriften“, sagt Ralf-Uwe Beck, Sprecher des Bundesvorstands von „Mehr Demokratie“. Der Verein, der sich bundesweit für direkte Demokratie, Volksbegehren und Volksentscheide einsetzt, hat derzeit nach eigenen Angaben noch keinen bundesweiten Überblick darüber, inwiefern der Lockdown zum Beispiel Bürgerbegehren behindert.

„Aber man kann definitiv sagen, dass das Sammeln von Unterschriften derzeit erschwert ist“, sagt Beck. „Und besonders erschwert ist es dort, wo die Gesetzgebung in den Ländern einem Bürgerbegehren nur knappe Fristen lässt.“ In Thüringen beispielsweise müssen alle Unterschriften für ein Bürgerbegehren auf der kommunalen Ebene innerhalb von vier Monaten zusammen sein. „Da kann man sich ausrechnen, wie viele Unterschriften man dann pro Tag sammeln muss, um am Ende ein erfolgreiches Bürgerbegehren zu haben.“

Immerhin: In vielen Bundesländern sind mittlerweile Fristverlängerungen erlaubt – zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, wo bei einer „epidemischen Lage von landesweiter Tragweite“ Bürgerbegehren gegen einen Ratsbeschluss statt nach sechs Wochen nun nach zehn Wochen eingereicht werden können. Was bei einem mehrmonatigen Lockdown freilich auch nur bedingt hilft: Folgt man dem im Juli vorgelegten Halbjahresbericht von Mehr Demokratie NRW, scheiterten in der ersten Jahreshälfte gleich mehrere Bürgerbegehren an den Auswirkungen der Pandemie. In Niedersachsen ist der Gesetzgeber dagegen großzügiger mit den Initiativen umgegangen. Hier kann der Hauptausschuss einer Kommune gemäß einer im Juli beschlossenen Änderung des Kommunalverfassungsgesetzes die Fristen für ein Bürgerbegehren „für die Dauer der festgestellten epidemischen Lage, höchstens jedoch für sechs Monate“ verlängern.

Auf Landesebene geht Betiligung auch per Post

Manche Initiatoren von Bürgerbegehren und Volksinitiativen allerdings setzen gar nicht mehr auf das direkte, persönliche Sammeln von Unterschriften. Zum Beispiel Péter Vida. Der Brandenburger Landtagsabgeordnete der Freien Wähler, der es in der vergangenen Legislaturperiode schaffte, mit Hilfe einer von 108.000 Stimmberechtigten unterzeichneten Volksinitiative auf Landesebene die Abschaffung der Straßenausbaubeiträge in dem Bundesland in die Wege zu leiten, will mitten in der Corona-Pandemie eine weitere Initiative gegen die so genannten Erschließungsbeiträge starten.

„Wir setzen in der Pandemie nicht mehr auf das Haustürsammeln“, sagte Vida zum Start seiner Initiative. Stattdessen erhalten 200.000 Brandenburger Haushalte in besonders betroffenen Gegenden Post der Freien Wähler. Enthalten in dem Schreiben ist eine Unterschriftenliste – würde nur aus jedem zehnten angeschriebenen Haushalt eine Person gültig unterschreiben, wäre das auf der Landesebene geltende Quorum von 20.000 Unterschriften geschafft.

Würde so etwas auch auf kommunaler Ebene funktionieren? Ralf-Uwe Beck verweist darauf, dass die meisten Unterschriften noch immer persönlich, an Infoständen geleistet werden. „Ein starker Strang ist aber die Digitalisierung“, sagt Beck. Bei Bürgerbegehren und Volksentscheiden ist sie allerdings nur ein zartes Pflänzchen: Beck spricht von „Andeutungen“ in Bayern und Brandenburg sowie Plänen in Schleswig-Holstein, wenn es um die Frage geht, ob Bürgerbegehren und Volksinitiativen dereinst auch elektronisch unterzeichnet werden können.

Online-Beteiligungen sind rechtlich oft unverbindlich

„Das einzige Beteiligungsinstrument im Internet ist die europäische Bürgerinitiative, die online unterschrieben werden kann“, so Beck. Aber im Unterschied zu einem Bürgerbegehren oder einer Volksinitiative in Deutschland ist solch eine Bürgerinitiative rechtlich eben unverbindlich – ähnlich wie eine Petition an den Deutschen Bundestag, die auch online gezeichnet werden kann. Immerhin: Das Versenden von Unterschriftenlisten per Mail und Messenger, die dann noch ausgedruckt und analog unterzeichnet werden müssen, funktioniert mancherorts schon tadellos. In Königsfeld in Baden-Württemberg etwa führte eine Initiative auf diese Weise ein Bürgerbegehren im Streit um den Neubau von Supermärkten zum Erfolg.

Die direkten Auswirkungen der Pandemie auf den Bürgerentscheid hielten sich in Grenzen"

Oliver Franz, Bürgermeister von Wiesbaden

Doch die direkte Demokratie beschränkt sich auch in der Corona-Krise nicht auf die Frage, wie in der Pandemiesituation Unterschriften gesammelt werden können. Es gibt auch noch die zweite Stufe – den Bürgerentscheid oder die Volksabstimmung. Und tatsächlich fanden auch in der Corona-Zeit Bürgerentscheide, ähnlich wie kommunale Wahlgänge, in vielen Kommunen statt. Zum Beispiel in Wiesbaden, wo es Anfang November einen Bürgerentscheid zu einer Stadtbahn, der so genannten „Citybahn“ gab.

„Aus unserer Sicht hielten sich die direkten Auswirkungen der Pandemie auf den Bürgerentscheid in Grenzen“, sagt der Wiesbadener Bürgermeister Oliver Franz im Gespräch mit KOMMUNAL. „Die Bereitschaft zur Mitwirkung in Wahlvorständen war nicht geringer als bei vorherigen Wahlen.“ Auch habe es nur einen sehr geringen Veränderungsbedarf bei der Einrichtung von Abstimmräumen gegeben.

In Wiesbaden konnten Bürger die Briefwahl mit einem QR-Code beantragen

Allerdings: Die Stadt verzeichnete einen Rekord bei der Briefwahl. „38 Prozent der Wähler votierten per Brief, bei der letzten Bundestagswahl waren es 30Prozent“, sagt Franz. Was auch damit zu tun haben könnte, dass die Briefwahl den Wählern in Wiesbaden besonders einfach gemacht wurde: Um die Briefwahl zu beantragen, gab es einen QR-Code auf der Abstimmbenachrichtigung und einen Online-Antrag auf der Webseite der Stadt. Zudem wurde in der örtlichen Presse immer wieder auf die Möglichkeit zur Briefwahl hingewiesen. Für die Verwaltung war es dennoch am Ende ein Kraftakt: „Wir hatten insgesamt neun Briefwahlausgabestellen eingerichtet, die Zentrale hatte sechs Wochen an 47 Stunden in der Woche geöffnet“, sagt Franz.

Und neben der Briefwahl gab es natürlich auch weiterhin die klassische Abstimmung an Wahlurnen. Und auch hier musste die Stadt – so wie viele Kommunen in diesem Jahr bereits bei Kommunal- und Bürgermeisterwahlen – auf besondere Hygieneregeln achten. So vermied man in Wiesbaden bewusst, dass Abstimmlokale, wie sonst üblich, in Alten- oder Pflegeheimen eingerichtet wurden – denn die abstimmenden Bürger sollten das Corona-Virus nicht versehentlich dorthin tragen, wo besonders vulnerable Menschen leben.

Auch in Pandemiezeiten ist direkte Demokratie möglich

„Vor den Wahlräumen gab es Hinweisschilder auf die Einhaltung der Hygieneregeln, der Zutritt zum Wahlraum wurde durch den Wahlvorstand zahlenmäßig begrenzt, sodass die Abstandsregeln eingehalten wurden“, beschreibt Franz andere Maßnahmen, die während des Bürgerentscheids galten. „Die Wahlvorstände waren mit Desinfektionslösung, Desinfektionstüchern, Einmalhandschuhen und Einmalmasken für Abstimmende ausgestattet, die ihre Maske vergessen hatten.“ Für die Wahlvorstandsmitglieder selbst stellte die Stadt FFP2-Masken zur Verfügung.

Ein gewisser Mehraufwand war für den Bürgerentscheid unter Corona-Bedingungen also durchaus erforderlich. Aber anders als die Unterschriftensammlungen auf der Straße, bei Veranstaltungen oder an Infoständen gibt es zumindest für diesen Teil der direkten Demokratie einen praktikablen Weg zur Umsetzung, auch unter Pandemie-Bedingungen.