©Dorothea Walchshäusl

Mehr Verantwortung für die Kommunen

8. April 2015
Der demografische Wandel stellt die Städte und Gemeinden vor große Herausforderungen. Immer mehr Menschen müssen - zum Teil über Jahrzehnte - ambulant oder stationär ver-sorgt werden. Eine Mammutaufgabe in Zeiten fehlender Fachkräfte und knapper Kassen. KOMMUNAL präsentiert innovative Ansätze und Modelle für die Pflege der Zukunft.

Wie werde ich leben, wenn ich alt bin? Werde ich alleine sein? Und wer wird mich pflegen? Früher oder später berühren und betreffen diese Fragen einen jeden Menschen und blickt man auf die Zeichen des demographischen Wandels, so nimmt ihre Dringlichkeit stetig zu. Bis zum Jahr 2030 wird die Zahl der Pflegebedürftigen nach dem ”Pflegereport 2030” der Bertelsmann-Stiftung um rund 50 Prozent zunehmen gleichzeitig aber sinkt die Zahl der Pflegekräfte. Schon jetzt zeichnet sich ab: Ein “Pflegenotstand” droht. Modellrechnungen der Bertelsmann-Stiftung belegen, dass der demografische Wandel die einzelnen Bundesländer wie auch die Kommunen unterschiedlich hart treffen wird. Während im Stadtstaat Bremen die Zahl der Pflegebedürftigen bis zum Jahr 2030 um 28 Prozent steigen wird, muss ein Flächenland wie Brandenburg einen Anstieg von 72 Prozent bewältigen. Noch größer sind die Unterschiede auf der kommunalen Ebene: Je nach vorhandener Altersstruktur ist mit Steigerungsraten von knapp 14 Prozent (Landkreis Goslar) bis zu mehr als 100 Prozent (Landkreise München bzw. Oberhavel) zu rechnen. Peter Niedermeier, der Leiter der Dienststelle für Kommunale Seniorenpolitik in Passau, ist überzeugt: Es sind die Städte und Gemeinden, die den demografischen Wandel gestalten müssen. “Als Kommune muss man jetzt den Grundstein legen für ein gutes Miteinander in 20, 30 Jahren.” Ganz diesem Motto folgend wurde in Passau wie in vielen anderen Kommunen in Deutschland vor zwei Jahren ein seniorenpolitisches Gesamtkonzept entwickelt, das die Herausforderungen des demographischen Wandels gezielt angeht. Von Anfang an stand dabei fest, dass es zur Erarbeitung von sinnvollen Ideen und Zielsetzungen der Einbindung aller relevanten Akteure bedarf, darunter die Pflegedienste und Altenheime, die ehrenamtlichen Institutionen, die Wohnungsbaugenossenschaften und der Hospizverein. Mit insgesamt rund 70 beteiligten Personen entstand in 11 Themenworkshops schließlich ein umfassendes Konzept, dessen Ansätze etwa im Bereich des allgemeinen Beratungsangebots, der Erleichterung gesellschaftlicher Teilhabe und kultureller Einbindung oder der Sicherung der Wohnsituation bereits erfolgreich Früchte tragen: Mit einem vielseitigen Veranstaltungskalender werden dreimal im Jahr gut 2.000 Haushalte über Kultur- und Informationsveranstaltungen ebenso benachrichtigt wie über neue städtische Angebote für Senioren. Ein weiterer wichtiger Zweig ist die von der Stadt koordinierte Nachbarschaftshilfe, die Verteilung einer umfassenden Notfallmappe als kostenlose Handreichung sowie die Erarbeitung eines Wohnberatungsangebots, das qualifizierte Architekten und Umbauwillige zusammen bringt. Der Knotenpunkt der kommunalen Seniorenarbeit in Passau ist der Schreibtisch von Mitarbeiterin Claudia Bachl in ihrem Büro im Wirtschaftsreferat des Rathaus. Frau Bachl war maßgeblich an der Erarbeitung des Konzepts beteiligt, seit Januar 2014 nun verkörpert sie die Kommunale Anlaufstelle für Passauer Senioren und bietet neutrale, trägerunabhängige und konfessionslose Beratung in nahezu allen Lebenslagen. ”Bei der seniorenpolitischen Arbeit greift alles ineinander”, meint Claudia Bachl und so vermittelt sie Expertenkontakte und Nachbarschaftshilfe, informiert über Fördermöglichkeiten und Pflegedienste und berät die Senioren selbst ebenso wie ihre Angehörigen und die professionellen Dienstleister. Angesichts der Herausforderungen des demographischen Wandels ist die Aufgabe der Kommunen in erster Linie die Koordination und Vermittlung zwischen den verschiedenen Akteuren, die Förderung und Wahrung sozialer Versorgung und seniorenfreundlicher Infrastruktur sowie die Unterstützung innovativer Projekte – sei es in öffentlicher, privater, kirchlicher oder ehrenamtlicher Trägerschaft. Gerade aufgrund der unmittelbaren Kenntnisse vor Ort kommt den Kommunen dabei eine immense Verantwortung zu, die oft nur bedingt im Verhältnis steht zu den tatsächlichen, vor allem finanziellen, Gestaltungs- und Steuerungsmöglichkeiten. Darunter leidet auch Frau Bachl: ”Im Endeffekt mangelt es meistens am Geld; zudem ist die Bürokratie oft dermaßen aufwändig, dass manche Förderprogramme mitunter kaum greifen”, so Bachl. In Passau behilft man sich daher meist mit der bewussten Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und der Umsetzung von finanziell wenig aufwändigen, aber dennoch wirkungsvollen Schritten. ”Schon kleine Sachen können viel verändern”, weiß Frau Bachl aus Erfahrung – und was die großen Sachen anbelangt, gerät politisch derzeit einiges ins Rollen: So wurde im September 2014 unter der Leitung des Bundesministeriums für Gesundheit eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, um die Rolle der Kommunen in der Pflege zu stärken – auf die Ergebnisse wird gespannt gewartet. Zumindest was die Heimplätze und Pflegedienste anbelangt, herrscht derzeit in Passau sogar noch ein Überangebot. Das St. Johannis-Spital ist dabei eines der zwei städtisch verwalteten Altenheime in Passau, außerdem gibt es acht weitere Heime. Allerdings ist auch in der überversorgten niederbayerischen Provinz bereits das zentrale Problem der Zukunft spürbar: ein akuter, stetig wachsender Mangel an Fachkräften. Der Geschäftsführer des St. Johannis-Spitals und des Heiliggeist-Stifts Horst Matschiner weiß nach elfjähriger Tätigkeit, wovon er spricht: ”Vor zehn Jahren noch habe ich jede Menge Blindbewerbungen bekommen. Diese Zeiten sind heute längst vorbei. Der Fachkräftemangel wird immer stärker spürbar und es ist ein ewiger Kampf, dass alle Stellen besetzt werden.” Ein weiteres Problem sei die enorme Bürokratisierung und die dauernde Dokumentationspflicht, durch die der Pflegeberuf zusätzlich an Attraktivität verliere. Was innovativere Wohn- und Betreuungsformen anbelangt, steht Passau noch am Anfang – begibt man sich allerdings bundesweit auf die Suche, so findet sich eine Vielzahl an nachahmenswerten Projekten. ”Ambulant vor stationär” – dieses Motto wird nicht nur von den Pflegekassen propagiert, sondern auch von den meisten älteren Menschen selbst vertreten. Dementsprechend wichtig ist die Versorgung in den eigenen vier Wänden; gleichzeitig gilt es, der drohenden Vereinsamung entgegenzuwirken, wenn die Wohnung nicht mehr verlassen werden kann und der Partner längst nicht mehr lebt. In Mühldorf am Inn hat man sich zu diesem Zweck einen VW e-Up zulegt und mit dem mobilen Seniorenmobil ein niedrigschwelliges Beratungsangebot geschaffen, das Wohnraumberatung ebenso umfasst wie psycho-soziale Betreuung. Angesiedelt an der Fachstelle für Senioren im Landkreis findet eine enge Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen statt, deren Ergebnisse sich sehr bewähren. ”Wir fahren zu den Menschen raus und machen uns ein Bild vor Ort”, erzählt der Seniorenbeauftragte des Landkreis Mühldorf Matthias Burger – die Nachfrage der Bürger ist steigend. Um auf dem ambulanten Sektor neben der persönlichen Ansprache auch die Sicherheit der älteren Menschen zu gewährleisten, gibt es mittlerweile ein umfangreiches Angebot an technischen Helfern im Alltag, das dem Verbleib in den eigenen vier Wänden dient und die Angehörigen und die Pflegekräfte sinnvoll unterstützt. Unter dem Titel ”Neue Technologien im Alter und bei der Pflege” wurde hierzu in der Gemeinde Esslingen ein Projekt gestartet, das praktische technische Hilfen gezielt an den Mann bringt. Das reicht vom Seniorenhandy über Herdsicherungssysteme bis hin zum Rauchmelder für Gehörlose, wobei Technik nicht automatisch ”groß und teuer heißt”, wie der Projektkoordinator Walter Dietrich weiß. Auch im Landkreis Verden hat man mit dem Einsatz von technischen Hilfsmitteln gute Erfahrungen gemacht. Die Technikberatung wird dort idealerweise mit der Wohnberatung verknüpft und als wichtiges Mittel erkannt, um die Pflege zu entlasten und die Lebensqualität zu verbessern. Die Vision eines Ersatzes von Pflegekräften durch Roboter halten allerdings beide Stellen für übertrieben – vielmehr unterstützt die Technik die Pflege. Geht es um den Kampf gegen die Einsamkeit, greift oftmals auch das ehrenamtliche Engagement, beispielsweise beim Projekt ”Nachbarschaftshilfe im Stadtteil Wesertor” in Kassel. Angesiedelt im Diakonischen Werk Kassel wird hier ein regelmäßiger Besuchsdienst ebenso organisiert wie Nachbarschaftshilfe, die Einkäufe beinhalten kann, die Fahrt zum Arzt oder das schlichte Wechseln einer Glühbirne. Ein anderer Ansatz ist es, ”die jungen Alten mit ins Boot zu holen”, wie es Frau Kirstin Anders-Pöppelmeier ausdrückt. Im extrem dünn besiedelten Wangerland hat sie es im Rahmen eines Projekts zur Innovativen Seniorenarbeit geschafft, rüstige Senioren zu ehrenamtlichem Engagement zu motivieren. Seit Mai 2014 nun gibt es einmal wöchentlich ein selbstorganisiertes Café mit dem Namen ”Café Mittendrin” im evangelischen Gemeindehaus – ein übergreifender Kommunikations- und Informationsort ist entstanden, der gerade ältere Menschen wieder aus ihren Wohnungen lockt. Die jungen Alten sind es auch, die zunehmend an innovativen Wohnprojekten Gefallen finden. Während Wohngemeinschaften dabei nur selten Erfolg haben, ist ein Trend zu Wohnungs-Gemeinschaften zu beobachten, die generationsübergreifend in barrierefrei gestalteten Häusern leben, beispielsweise im ”Wohnprojekt WILNA” in Coburg oder im ”WiGe Vielfalt” Mehrgenerationenhaus in Aschaffenburg. In Coburg vermietet der Träger ”AWO Gemeinschaftswohnen in Coburg e.V.” insgesamt 16 Wohneinheiten. Die Bewohner sind derzeit zwischen 3 und 84 Jahre alt, es gibt gemeinsam nutzbare Räume und die Gemeinschaft wird ständig moderiert von der 1. Vereinsvorsitzenden Sabine Thomack. Auch in Aschaffenburg geht es, ähnlich wie in Coburg, darum, ”dem Alleinsein entgegenzuwirken und die Idee der Inklusion und der Großfamilie zu leben”, wie Günther Wurpts vom Mehrgenerationenhaus ”WiGe Vielfalt” sagt. In Aschaffenburg hat der WiGe als gemeinnütziger Verein mit dem Vermieter, der StadtbauGmbH Aschaffenburg, einen Rahmenvertrag abgeschlossen und auch hier wohnen Jung und Alt in abgetrennten Wohnungen nebeneinander. Geht es um neue Mieter, so hat die Hausgemeinschaft ein Mitspracherecht – ”die Chemie muss stimmen, das ist ganz wichtig”, meint Herr Wurpts. Ein besonderes Modell des Mehrgenerationenwohnens findet sich in Nürnberg in der Hausgemeinschaft ”wohnenPLUS”. Unweit des Hauptbahnhofs gelegen, wohnen hier Senioren mit Alleinerziehenden in einem Haus und leben ein ”Geben und Nehmen auf freiwilliger Basis”, wie Mandy Fuhrmann, der geschäftsführende Vorstand der Wohnungsgenossenschaft ‚andersWOHNEN eG‘ sagt. ”Die Senioren haben Zeit, die Alleinerziehenden brauchen oft Zeit”, meint Frau Fuhrmann – in Nürnberg finden diese Bedürfnisse zusammen und auch hier ist die Nachfrage nach weiteren Wohnungen groß. Während die Wohnungen in Mehrgenerationenhäusern nicht selten staatlich gefördert werden, gibt es auf der anderen Seite ein explizites Luxus-Angebot an betreutem Wohnen mit hohem Service- und Dienstleistungsangebot. Unter dem Titel ”PREMIUM RESIDENZEN” präsentiert sich ein Verbund an privat geführten Häusern, die neben einer eigenen Wohnung und einem Service wie im Hotel auch einen hauseigenen Pflegedienst sowie eine angeschlossene Pflegestation anbieten. Der Mindestpreis pro Bewohner liegt bei 35.000 Euro im Jahr, die Grenze ist nach oben offen und die Nachfrage ist enorm, wie Thomas Neureuter, der Initiator des Verbunds bestätigt. ”Unser Angebot ist für all jene, die sagen ‚Ich möchte was Besseres‘”, so Herr Neureuter – ”und davon gibt es gar nicht wenig”. Ehemalige Beamte, Rechtsanwälte und Ärzte sind seine Klientel, ”Leute, die gut verdient haben” und die die Einsamkeit im Alter ebenso fürchten wie einen eingeschränkten Lebensstandard. Leben Zuhause ist das eine, Leben im betreuten Wohnen oder im Pflegeheim das Andere. Wie beides miteinander kombiniert werden kann, zeigt das teilstationäre Modell der Tagespflege, das insbesondere die Angehörigen enorm entlastet und zum Beispiel vom Deutschen Roten Kreuz Flensburg-Stadt e.V. in Flensburg angeboten wird. Von Montag bis Freitag ist die Tagespflege dort jeweils zwischen 8 und 16.30 Uhr geöffnet, die Senioren werden als ”Tagesgäste” bezeichnet und mit einem Fahrdienst von Zuhause abgeholt und wieder heimgebracht. Bis zu 18 fest angemeldete Gäste sind pro Tag in der Einrichtung, sie bekommen drei Mahlzeiten, ein vielfältiges Beschäftigungsangebot und je nach Pflegebedarf eine intensive Betreuung. Für Christa Calmer, die Leiterin der Einrichtung, ist das Modell der Tagespflege gerade mit Blick auf die Alterung der Gesellschaft besonders erfolgsversprechend – nicht zuletzt deshalb, weil sich im Gegensatz zur Situation in den stationären Pflegeheimen auf Frau Calmers Schreibtisch die Bewerbungsunterlagen stapeln. Feste Arbeitszeiten, keine Wochenend- und keine Nachtdienste – die Tagespflege ist auch für Pflegefachkräfte ein attraktives Angebot. Unterstützt wird dieses Modell nun auch durch das Pflegestärkungsgesetz, das seit 1. Januar 2015 in Kraft ist und zusätzliches Geld für teilstationäre Pflege freigibt. Welche Modelle in einer Kommune nun letztlich zum Tragen kommen, ist je nach Einwohnerstruktur und dementsprechender Nachfrage sehr unterschiedlich. ”Im Endeffekt regelt das Angebot der Markt selbst”, betont Peter Niedermeier von der Stadt Passau. Stefan Etgeton, der Gesundheitsexperte der Bertelsmann-Stiftung, ist überzeugt, dass die Herausforderungen des demografischen Wandels nur dann gemeistert werden können, wenn die Rolle der Kommunen gestärkt wird. Das von der Stiftung erarbeitete Konzept eines „Regionalen Pflegebudgets“ fußt auf der Idee, dass Pflege vor Ort, also in den Städten und Gemeinden, stattfindet und daher auch lokal organisiert werden müsse. Je nach Zahl der Pflegebedürftigen und Pflegestufe sollen die Städte und Gemeinden ein monatliches Budget aus der Pflegeversicherung erhalten. Diese Mittel sollen die Kommunen in den Ausbau regionaler Strukturen investieren. Auf lange Sicht, so die Überzeugung der Stiftungsexperten, würden die Kosten für die Pflege sinken. Kommunen, die mit ihren Pflegebudgets wirtschaftlich umgehen, etwa indem sie die teure Unterbringung in Heimen zurückfahren und die Pflege in den eigenen vier Wänden stärken, sollen das so eingesparte Geld nämlich behalten und reinvestieren dürfen. Laut Studie könnten 500 Millionen Euro im Jahr eingespart werden, wenn nur zehn Prozent der Pflegebedürftigen von der stationären Pflege in die ambulante wechseln würden. Klar ist allerdings auch: Um ein Modell wie das des „Regionalen Pflegebudgets“ möglich zu machen, braucht es neue Strukturen. Eine Regionalisierung der Bundesmittel aus der Sozialversicherung ist rechtlich nicht zulässig. Ob das Regionale Pflegebudget eines Tages Wirklichkeit werden wird, ist ungewiss. “Wir haben ein Konzept zur Diskussion gestellt, von dem wir glauben, dass es die dringendsten Probleme in der Pflege, nämlich die Finanzierung und den Fachkräftemangel, zumindest mildern könnte. Was wir uns jetzt wünschen, ist ein fruchtbarer gesellschaftlicher Dialog”, sagt Etgeton.