Zukunft des Landlebens

Wider das Dorfsterben - KOMMUNAL berichtet über Perspektiven für den ländlichen Raum

Der Supermarkt ist schon lange geschlossen. Eine Postfilliale gab es mal, der Arzt ist weggezogen und der Fußballclub hat seine Mannschaften wegen Nachwuchsmangels schon lange vom aktiven Spielbetrieb abgemeldet. Zweimal am Tag kommt für die wenigen verblieben Kinder ein Schulbus, einmal die Woche der rollende Bäcker. Und einmal im Monat feiert der evangelische Pfarrer mit den letzten, längst im Rentenalter befindlichen Gemeindegliedern einen Gottesdienst in der jahrhundertealten Feldsteinkirche. Ostdeutschlands Dörfer vergreisen: Junge Familien ziehen weg, Arbeitsplätze gibt es nur noch in der Landwirtschaft. Wie soll es weitergehen? Für Städte gibt es schon lange ein Konzept: Die DDR-typischen Plattenbauviertel werden abgerissen, überzählige Wohnquartiere zurückgebaut. Zum Beispiel in Wittenberge, einer industriell geprägten Kleinstadt auf halbem Wege zwischen Berlin und Hamburg. Dort sollen bis 2030 rund ein Drittel der alten Plattenbauten abgerissen werden. Die verblieben Wohnviertel sollen städtebaulich aufgewertet werden, finanziert durch das Programm „Stadtumbau Ost“ der Bundesregierung. Zum Beispiel auch in Stendal. Dort hatten die Stadtverordneten 1998 den Abriss des einst für die Beschäftigten eines zu DDR-Zeiten geplanten Kernkraftwerks erbauten Viertels Stendal-Süd beschlossen. Die Strom- und Wasserleitungen wurden abgekoppelt, die letzten Bewohner zogen aus. Was am Ende leichter geplant und beschlossen, als schließlich umgesetzt war: Denn einige Wohnblocks hatte die Treuhand an private Investoren veräußert. Sie wechselten häufig den Besitzer, wurden dem Verfall preisgegeben und zum Notquartier all derer, die sich eine Wohnung in besseren Stadtteilen nicht leisten konnten. Müllgebühren wurden nicht bezahlt, Betriebskosten von skrupellosen Vermietern in die eigene Tasche gesteckt. Erst Ende 2014 zogen die letzten Bewohner aus. Stendal-Süd ist endgültig Geschichte.

Wie sieht die Zukunft des Landlebens aus?

Solche Konzepte gibt es für die Dörfer bislang kaum. „Die freiwerdende Fläche ist in den neuen Bundesländern wie in Ostdeutschland ein Problem“, sagt Falk Schmidt. Der Wissenschaftler arbeitet am „Institute for Advanced Sustainability Studies“ (IASS), das zusammen mit dem „Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung“ über die Zukunft des ländlichen Raums forscht. 2011 hatte das Berlin-Institut für einen Paukenschlag gesorgt: Eine Studie mit dem Titel „Die Zukunft der Dörfer“ warnte davor, dass „mittelfristig zahlreiche Dörfer in ihrer Existenz gefährdet“ seien. Untersucht wurden dabei Gemeinden in Hessen und Thüringen. Die Forderungen der Studie waren radikal. „Kleine Orte sollten zu Großgemeinden zusammengeschlossen werden, die mit mehr Handlungsspielraum ausgestattet sind“, hieß es damals. „Ortsübergreifend gewählte Bürgervertreter sollten entscheiden, wo welche Infrastruktur vorgehalten, wo nicht mehr investiert wird und wo Baugenehmigungen erteilt werden.“ Vor allem aber sah die Studie neue Wüstungen vor. Wüstungen – ein Begriff, der bislang nur aus der Geschichte bekannt ist. Denn im Laufe der Jahrhunderte fielen immer wieder Dörfer wüst. Sei es, weil die Pest die Einwohner dahinraffte, sei es, weil die Truppen des dreißigjährigen Krieges brandschatzend durchs Land zogen. Oder schlicht, weil sich der Standort eines Dorfes im Laufe der Jahre als nicht geeignet erwies, und die Menschen weiterzogen. „Für Orte, in denen nur noch wenige, ältere Bewohner zurückbleiben, sollten rechtzeitig Programme entwickelt werden, die umzugswillige Menschen finanziell dabei unterstützen, ihren Wohnsitz in stadtnähere und infrastrukturell besser versorgte Orte zu verlegen“, heißt es nun in der Studie aus dem 21. Jahrhundert. „Es sollte ein Fonds gegründet werden, der den Rückbau von Dörfern und den Abriss von Schrottimmobilien finanziert.“ So könnten Ortsbilder attraktiv bleiben und nicht mehr benötigte Flächen an die Natur zurückgegeben werden.  

Wie wird die Zukunft des Landlebens konkret Wirklichkeit?

Umgesetzt wurde dieses Szenario bislang nicht. Noch ist kein Dorf in Deutschland der demographischen Entwicklung zum Opfer gefallen. Allerdings: In manchen Regionen des Landes lässt sich eindrücklich beobachten, zu welchen Schwierigkeiten solche Überlegungen führen könnten. Denn es gibt Fälle, in denen Menschen ihre angestammte Heimat aus politischen und wirtschaftlichen Gründen verlassen müssen. In der zwischen Brandenburg und Sachsen gelegenen Lausitz etwa sorgt der Braunkohletagebau dafür, dass Orte aufgegeben werden müssen. Dörfer wie Atterwasch, Welzow oder Proschim sind mittlerweile Symbole für den jahrelangen Widerstand von Tagebaugegnern, die nicht von der angestammten Scholle weichen wollen. Und auch als das südlich Berlins gelegene Diepensee dem Ausbau des Großflughafens BER weichen musste, wurden Millionenbeträge für die Umsiedler fällig. Geplant abgesiedelt wurde auch das bayerische Isarmünd. Das bei Deggendorf an der Mündung der Isar in die Donau gelegene, rund 700 Jahre alte Dorf zählte zum Schluss neun Häuser und ein Kirchlein. Immer wieder wurde es vom Donaustrom überflutet, zum Schluss war der Hochwasserschutz schlicht zu teuer für die Isarmünder. Die schützenden Deiche hätten erhöht, teilweise auch neu errichtet werden müssen. Doch für neun Häuser lohnte der Aufwand nicht: Ein zweistelliger Millionenbetrag wäre erforderlich gewesen. Stattdessen erhielten die Anwohner den Wert ihrer Häuser ausbezahlt, viele zogen ins benachbarte Moos. Mit Tränen in den Augen, wie die Lokalpresse schrieb. Heute steht von Isarmünd nur noch die Kapelle, geweiht dem Heiligen Nepomuk, dem Schutzpatron gegen Wassergefahren.

Ein Zukunftsszenario für den ländlichen Raum?

Absiedeln, weil die Infrastruktur nicht mehr zu halten ist? Beim Potsdamer IASS-Institut ist man mittlerweile etwas skeptischer. „Wir denken über den Grundsatz der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse nach“, sagt Falk Schmidt. „Ist das nicht ein Planungsmodell, das in einem gewissen Kontext nicht mehr greift?“ Im Klartext: Muss es in der Tiefe des ländlichen Raums wirklich dieselbe Infrastruktur geben wie in einem Dorf am Stadtrand oder gar in der Großstadt? Und noch mehr: Die Wissenschaftler am Institut machen sich Gedanken, wie Dörfer wieder lebenswert werden können. „Dörfer haben Zukunft, wenn sie so weit wie möglich auf den Erfindungsreichtum und die Potentiale vor Ort setzen können“, sagt Schmidt. Beispiele gibt es überall. Auf den nordfriesischen Halligen etwa, wo schon aus räumlichen Gegebenheiten ein Schulbesuch der Kinder nicht anders organisierbar ist, unterhält das Land Schleswig-Holstein seit ewigen Zeiten Zwergschulen, die nur von zwei oder drei Kindern und Jugendlichen besucht und von einer Lehrerin unter tatkräftiger Mithilfe der Eltern und des Einsatzes moderner Medien betrieben werden. Denn aus Gründen des Küstenschutzes ist es wichtig, dass die Inseln langfristig bewohnt werden. In der Brandenburger Uckermark fährt ein so genannter „Kombibus“ durchs Land: Wenn morgens die Schüler zur Schule gebracht werden, werden auch die Produkte einheimischer Erzeuger in die nächste Stadt transportiert. Und in Süddeutschland eröffnen immer mehr Einwohnerinitiativen einen Dorfladen: Wo ein Kaufmann vor den Personalkosten kapitulieren würde, sorgt ehrenamtliches Engagement dafür, dass es vor Ort wieder einen Nahversorger gibt. Und sich im Dorf ein neuer Treffpunkt bildet. „Man muss die Experimentierfreudigkeit der Bürger fördern“, sagt Falk Schmidt.

Was tun die Bundesländer für die Zukunft des Landlebens? 

Ein Thema, das auch die Landesregierungen und Landesparlamente nach und nach entdecken. In Bayern setzte der Landtag im Juli 2014 eine Enquete-Kommission zum Thema „Gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Bayern“ ein. Der Ärztemangel in ländlichen Gebieten, der Breitbandausbau, die Nahversorgung im ländlichen Raum oder die Sorge um Ausbildungsplätze in strukturschwachen Regionen zählen zu den Themen der Kommission. Und in Brandenburg ist nun eine Enquete-Kommission zur Zukunft des ländlichen Raums geplant. „Es soll um Daseinsvorsorge, Wertschöpfung und Siedlungsstrukturen gehen“, sagt der designierte Vorsitzende der Kommission, Wolfgang Roick (SPD). Die Initiative zur Einsetzung der Kommission hatten ursprünglich CDU und Grüne. Mittlerweile wird der Vorschlag jedoch auch vom rot-roten Regierungslager unterstützt. „Als Uckermärker kann ich jeden Tag hautnah erleben, dass der Geburtenrückgang und der Wegzug junger Familien für den ländlichen Raum eine riesige Herausforderung darstellt“, sagt der CDU-Landtagsabgeordnete Henryk Wichmann. „Bisher war die Antwort der Verwaltung eigentlich immer nur, dass man die Infrastruktur abgebaut hat.“ Das gehe soweit, dass es für Landesstraßen in dünn besiedelten Regionen gar keine Investitionen mehr gebe. Sie gehören zum so genannten „Grünen Netz“. Auf mehr als 2.900 Kilometer Straßenlänge gibt es seit 2008 maximal noch Instandhaltungsmaßnahmen. Einziges Ziel des Landes ist die Gewährleistung der Verkehrssicherungspflicht. Ist das ein weiterer Schritt in Richtung Absiedlung von Dörfern? Wird es neben Isarmünd in Deutschland künftig noch weitere Orte geben, die wüst fallen, weil die Betriebskosten für die Dörfer langfristig zu hoch sind? Oder wird es gelingen, dass auch kleine Dörfer in dünn besiedelten Regionen weiter ein attraktiver Lebensraum für ihre Einwohner sind? Derzeit ist wohl nur eines wirklich klar: In den nächsten Jahren wird sich zeigen, welche Tragfähigkeit Modellprojekte und Zukunftsstudien haben. Und ob für manche der vielen hundert Jahre alten Siedlungen der Sprung ins 21. Jahrhundert zugleich die letzte Jahrhundertwende war, die sie erleben.

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