Mitarbeiter stehen zusammen
Weniger Teilzeit, mehr arbeiten - das könnte den Fachkräftemangel lindern.
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Fachkräftemangel

Künftig werden wir mehr arbeiten müssen

Der Fachkräftemangel ist auch Ergebnis von Relikten einer veralteten Arbeitsgesellschaft. Wir haben demografisch auf Kosten der Zukunft gelebt. Wollen wir die Zukunft auf dem Arbeitsmarkt meistern, müssen wir die alte Arbeitsgesellschaft endlich zu Grabe tragen, meint Zukunftsforscher Daniel Dettling.

Erinnern Sie sich noch an die Ära der (Massen-)Arbeitslosigkeit vor 20 Jahren? Die Zahl der Arbeitsuchenden stieg auf über fünf Millionen. Heute stehen wir vor einer neuen Ära: der Arbeiterlosigkeit. Bis 2035 fehlen dem Land mehr als sieben Millionen Arbeitskräfte. Der Mangel an Arbeitskräften wird zur größten Wachstumsbremse in Europa. Kitas schließen früher, weil Erzieher fehlen, Schulen greifen auf Quereinsteiger zurück und führen wieder Online-Unterricht ein, in Kliniken und Pflegeheimen fehlen Hunderttausende Kräfte. Wenn die demografische Zeitenwende nicht zu einem Verlust an Wohlstand und Versorgung führen soll, braucht es intelligente Lösungen und keine Tabus. Wenn die Jungen fehlen, müssen wir an die „stillen Reserven“ ran.

Deutschland ist Teilzeiteuropameister

Die Frauen und die älteren Menschen sind unsere stillen Reserven. Deutschland ist Teilzeiteuropameister. Während Männer ihre Arbeitszeit kaum reduziert haben, arbeiten Frauen um ein Vielfaches in Teilzeit. Deutlich mehr sind es bei Frauen mit Kindern. Zwei Drittel von ihnen arbeiten Teilzeit, fast zehnmal so viele wie Männer mit Kindern, und doppelt so viele wie im Schnitt der EU-Mitgliedstaaten. Für Aufsehen sorgte vor wenigen Wochen ein Gutachten der Kommission im Auftrag der deutschen Kultusminister. „Weniger Teilzeit und Mehrarbeit“ heißen die entscheidenden Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz.

Unterrichtsausfall - Schüler ohne Lobby

In Deutschland unterrichten rund 100.000 Lehrkräfte nur 50 Prozent der regulären Stundenzahl. Nur wenigen Stunden mehr im Monat würden deutlich weniger Stundenausfall und mehr Förderung vor allem der Lernschwächeren bedeuten. Zur Risikogruppe gehören 20 bis 25 Prozent von Jugendlichen. Der Mangel an Lehrerinnen und Lehrern hat für sie fatale Folgen. Ihre Lebens- und Integrationschancen hängen entscheidend von der Anzahl und der Qualifikation der Lehrkräfte ab. Obwohl die Empfehlungen der unabhängigen Kommission ohne Gegenstimme getroffen wurden, war der Aufschrei der Verbände enorm. Die vom Ausfall betroffenen Schüler haben hierzulande keine Lobby.

Zwei Stunden Mehrarbeit pro Tag

Würden Frauen auch in anderen Branchen länger arbeiten, wäre das Fachkräfteproblem erheblich entschärft. Zwei Stunden pro Tag Mehrarbeit würde in Deutschland so viel bringen wie 500.000 zusätzliche Arbeitskräfte, so der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer Peter Adrian im Februar. Auch Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger fordert mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Hauptursache für den Gender-PayGap ist der Gender-Work-Gap. Frauen entscheiden sich öfter als Männer für schlechter bezahlte Jobs und mehr Teilzeit. Im Durchschnitt arbeiten Männer 41 Stunden pro Woche, bei den Frauen sind es mit 32 neun Stunden weniger. Dabei wollen immer mehr Frauen ihre Arbeitszeit aufstocken. Lassen wir sie! Aber warum sollen nur Frauen mehr arbeiten? Die zweite Gruppe, auf die es ankommen wird, sind die geburtenstarken Jahrgänge, die Babyboomer. Die Steigerung ihrer Erwerbsbeteiligung ist der mit Abstand wichtigste Hebel.

Silver Worker auf dem Vormarsch

Die Richtung auf dem Arbeitsmarkt ist klar: Die Silver Worker kommen. Der durchschnittliche Beschäftigte geht in Deutschland mit 64 Jahren in Rente. Die Erwerbsquoten der 60- bis 64-Jährigen liegen noch immer bis zu 20 Prozentpunkte niedriger als die der 55- bis 59-Jährigen. Dass vor 20 Jahren der Abstand noch bei 40 Prozent lag, zeigt das weitere Potenzial, dass in der Erwerbsbeteiligung Älterer liegt. Die Zukunft gehört den „Silver Workern“ - Ältere, die trotz Rente arbeiten. Der Anteil der deutschen Erwerbstätigen ab 65 Jahren hat sich in den letzten 10 Jahren fast verdoppelt und nimmt seitdem kontinuierlich zu. Zwei Drittel sind noch Männer, der Anteil der Frauen steigt aber schneller. Das Durchschnittsalter der Silver Worker liegt bei 71 Jahren. Zwei Drittel von ihnen arbeitet aus persönlichen und weniger aus finanziellen Gründen länger. Überragend hoch ist die Zufriedenheit. 98 Prozent sind zufrieden oder sehr zufrieden mit ihrer Arbeit. Wie fit und auf der Suche nach einer besseren Zukunft die Generation 60 plus ist, zeigt auch der Heiratsmarkt. Immer mehr verpartnern sich mit 65, 70 und 80 neu und sind unternehmungslustig. Fördern wir den Trend und lassen die Babyboomer auch länger arbeiten!

Weniger Teilzeit, länger arbeiten

Die beiden Hebel zu mehr Geschlechter- und Generationengerechtigkeit sind weniger Teilzeit und länger arbeiten. Wenn Frauen, insbesondere Mütter, weniger Teilzeit und Ältere länger arbeiten würden, könnten wir die demografische Katastrophe abwenden und die Folgen der Schrumpfung mehr als halbieren. Voraussetzung ist ein dritter Hebel: ein Bewusstseinswandel bei den Männern und in den Unternehmen. Es ist richtig, wenn sich Männer wie Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger und DIHK-Präsident Peter Adrian für mehr Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren einsetzen. Nur sollten wir sie nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten messen. Ein flächendeckender Ausbau der Ganztagsbetreuung in Kitas und Schulen kostet viele Milliarden Euro. Aber warum soll dies nur der Staat leisten? Von den 58.500 Kitas in Deutschland sind nur etwas mehr als ein Prozent, nämlich rund 790, Betriebskitas. Mehr Kitas in den Unternehmen hätten einen doppelten Effekt: zufriedene Beschäftigte und mehr Babys.



Fazit: Mehr Geschlechter- und Generationengerechtigkeit sind die Bedingungen für eine moderne Arbeitsgesellschaft. Hohe Teilzeitquoten von Frauen und Müttern und geringe Erwerbsquoten von Älteren sind Relikte einer Arbeitsgesellschaft, die demografisch auf Kosten der Zukunft gelebt hat. Tragen wir diese alte Arbeitsgesellschaft endlich zu Grabe tragen.

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