Ältere und june Frau
Die Jüngeren kümmern sich um die Älteren - die Pflege soll nachbarschaftlicher organisiert werden.
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Gesellschaft

Die Kommunalisierung der Pflege

Altersfreundlichen Kommunen gehört die Zukunft. Städte und Gemeinden als „Caring Communities“ können damit viel gewinnen - wirtschaftlich, sozial und demokratisch, sagt Zukunftsforscher Daniel Dettling.

Alle wollen alt werden, aber niemand will es sein. „Alter“ ist in Deutschland ein Unwort. Statt eine älter werdende Gesellschaft als Chance zu sehen, reduzieren Politik und Profession den demografischen Wandel auf Begriffe wie „Pflegenotstand“, „Pflegekatastrophe“ und „Kostenlawine“.  Uns droht die Zukunft einer ambulanten und stationären Pflege, die pflegebedürftige Senioren professionell versorgt, ohne Integration in ihr bislang gewohntes soziales und kommunales Leben. „Professionell, teuer und kalt“ – wollen wir in einer solchen älter werdenden Gesellschaft leben? Das heutige Alternativmodell, die Familienpflege, ist ebenfalls ein Auslaufmodell. Wie und wo wollen wir dann alt werden? In professionell betriebenen Pflegeheimen oder in Caring Communities, in denen die Älteren mit anderen ihr Leben gemeinsam gestalten?

Die Verweildauer in Pflegeheimen geht zurück

Fünf Millionen Pflegebedürftige gibt es heute in Deutschland, 2030 werden es sechs Millionen sein. Rund 800.000 leben vollstationär in Pflegeheimen. Fünf von sechs Bedürftigen werden zu Hause versorgt, weil sie es so wollen. Über 90 Prozent der Älteren wollen möglichst lange in den eigenen vier Wänden leben. Die meisten von ihnen werden von ihren Angehörigen gepflegt, von Ehefrauen und Töchtern. Bald wird der Eigenbeitrag für einen Pflegeheimplatz bei rund 3.000 Euro im Monat liegen. 2020 waren es noch gut 2.000, im Jahr 2023 bereits 2.740 Euro. Weil das viele der betroffenen Senioren nicht zahlen können, springen Familien oder Sozialämter ein. Immer mehr Pflegeheime schließen aus Kostengründen, immer weniger kommen neu dazu. Die nächste Generation Pflegebedürftige wird sich das nicht mehr leisten können, weil ihre Renten niedriger ausfallen. Hinzu kommt: Die Lebenszeit in Pflegeeinrichtungen wird immer kürzer. Die durchschnittliche Verweildauer ist zuletzt um drei auf 25 Monate zurückgegangen. 

Bald keine ambulante Pflege mehr?

Vor drei Jahren hielt die Präsidentin des Deutschen Pflegerats, Christine Vogler, eine viel beachtete Rede und malte ein düsteres Zukunftsszenario an die Wand: Im Jahr 2033 werde es keine ambulante Pflege mehr geben, sondern nur noch Heime, in denen die Pflegebedürftigen in Massen versorgt werden. Für Menschen ab 80 und mit schlechten Prognosen gebe es eine „Beendigungsbehörde“ für den Lebensabschluss. Finanziell leistungskräftigere Senioren leben dann in „Lebensabendhäusern“, wo sie professionell gut versorgt werden. Hat diese rein professionell betriebene Pflege eine Zukunft? „Nein“, sagen der über 80-jährige Theologe und Professor für Soziologie, Reimar Gronemeyer, und Oliver Schultz, Mitherausgeber der Zeitschrift „demenz“, in ihrem jüngst erschienenen Buch „Die Rettung der Pflege“. Sie zerstöre die Eigenkräfte der Menschen. Ihr Zukunftsmodell ist die „Caring Society“. An die Stelle der „Pflege“ tritt „Care“: Anteilnehmen, Kümmern, Versorgen, das sich füreinander (demokratische) Engagieren.

Die „Caring Society“: Die Resozialisierung der Pflege

Die Aufgabe der Pflege wird damit resozialisiert und findet dort statt, wo sie ursprünglich hingehört: in der kommunalen Nachbarschaft. Pflege wird damit zu einer Sorgepraxis, welche die Gesellschaft mitdenkt und einbindet. Das alte Modell der Pflege(heime) wird zum Auslaufmodell. Das Zukunftsmodell einer „Caring Society“ setzt im Kern auf einen Pflegemix aus zurückgehender professioneller Pflege und erstarkender lokaler Laienpflege. Es geht um Nachbarschaften, Quartiere und Räume, die den Alltag der Menschen, nicht nur der Älteren, lebenswert machen. Flexible Wohninfrastrukturen und nachbarschaftliche Projekte, die Pflege in den Alltag integrieren und dabei die Pflegebedürftigen mit einbinden. Care findet im Wohnumfeld und zu Hause statt. Mit den Pflegebedürftigen werden Vereinbarungen getroffen: „Wie mobil wollt ihr sein? Wie können wir Euch dabei unterstützen?“ Pflege wird lebensweltlicher, näher und integrativ. Netzwerke aus Familie, Freunden und Nachbarschaft entstehen. Alters-WGs verbinden das Bedürfnis der Älteren, möglichst lange in den eigenen vier Wänden und nicht in einem Heim leben zu müssen, mit der Notwendigkeit, sie gut und effizient zu betreuen. Städte und Gemeinden müssen so gebaut sein, dass alles, was man zum täglichen Leben braucht, nicht weiter als ein paar Minuten zu Fuß entfernt ist von dem Ort, wo man lebt. Nachbarschaftliches Wohnen statt eines Lebens in Einsamkeit. Caring Communities fördern den Verbleib in der eigenen Häuslichkeit und gewohnten Umgebung und verhindern präventiv den Wechsel in stationäre Pflege. Kommunen als „Caring Communities“ können damit viel gewinnen, wirtschaftlich, sozial und demokratisch.  Es geht um attraktive Wohn- und Nachbarschaftsformen, Quartierärzte und -schwestern, Telemedizin und einen Mix aus professioneller Pflege und ehrenamtlichem Kümmern.

„Age-friendly“: Digital und präventiv vor ambulant und stationär  

»Altersfreundlichen Kommunen gehört die Zukunft. „Age friendly“ ist weltweit ein Trend für Städte und Gemeinden. Mehr als 150 Länder haben sich in dem WHO-Netzwerk „Age-friendly Cities and Communities“ zusammengetan. 2010 gegründet, will das globale Netzwerk Städte und Gemeinden ermutigen, altersfreundlich zu werden. Wer aufgenommen werden will, muss einen umfangreichen Kriterienkatalog erfüllen. Die finnische Stadt Tampere hat es beispielsweise geschafft, indem sie älteren Menschen eine barrierefreie Umgebung ermöglicht hat. Die Stadtplanung setzt dabei auf verkehrsberuhigte Zonen und altersgerechte Wege. Von der neuen urbanen Barrierefreiheit profitieren auch andere Bevölkerungsgruppen wie Eltern mit kleinen Kindern und Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Das neue Wohnquartier bietet kostenpflichtige Services an wie Physiotherapie und Ernährungsberatung. Unter den über 1.500 Mitgliedern sind nur wenige deutsche Städte und Gemeinden.

Das muss sich ändern. Auch wenn es keinen Masterplan für eine kommunale Altersstrategie gibt, müssen sich Kommunen mit dem demografischen Wandel zu Orten für alle Lebensalter wandeln. Dabei kommt es vor allem auf die „jungen Alten“ an, die wachsende Gruppe von Senioren und Rentnern, die über Zeit, Geld und Fitness verfügen. Die lokale Pflege älterer Menschen wird zum neuen kommunalen Wachstumsmarkt. „Kommunal und präventiv vor ambulant und stationär“ ist der Weg in die altersgerechte Zukunft.

Dr. Daniel Dettling ist Geschäftsführer von Gesundheitsstadt Berlin e.V.