Bürgermeister an die Macht
KOMMUNAL: Herr Professor Barber, in ihrem Buch „If Mayors Ruled the World“ fordern Sie eine Verschiebung der Macht zu „einzelnen Städten“. Wie definieren Sie Städte und wie müssen Städte beschaffen sein, um diese Art „Macht“ auszuüben? Benjamin Barber: Die Definition „Stadt“ ist ja stark umstritten. Eine Möglichkeit der Definition sind die Grenzen, die meist noch aus dem 18. Jahrhundert stammen. Eine weitere Definition richtet sich an der Region aus, für die Stadt „Dienste leistet oder anbietet“. Wie können „Stadt“ weiter nach finanziellen, rechtlichen, wirtschaftlichen, ökonomischen oder kulturellen Punkten definieren. Zum „neuen Fokus auf die Stadt“ gehören alle diese Punkte dazu. Der Schlüssel ist, dass die „Macht“ und die finanzielle Ausstattung Hand in Hang gehen müssen mit der Bevölkerung, der sie „dienen“. Derzeit ist es ja so, dass Städte ihre Umgebungen und die sie umgebenden Regionen „bedienen“, sie aber finanziell dazu nicht ausgestattet werden. Sie haben auch die juristische Autorität nicht, das zu tun. Und in manchen Staaten haben sie auch gar nicht die Autonomie, das zu tun. Die erste Herausforderung, wenn man an eine „neue Gesellschaft der Städte“ denkt, ist genau diese rechtlichen und finanziellen Grundlagen zu schaffen. Führt das nicht direkt zu einer großen (Steuer-)Konkurrenz zwischen Städten? Es wird natürlich zu einem Wettbewerb zwischen der lokalen und der nationalen Ebene der Verwaltung führen. Das Problem, das sie haben, ist nicht der Wettkampf untereinander, sondern der Wettkampf mit der staatlichen Ebene, die sie „besteuert“. Der Staat nimmt das Geld und gibt es den Kommunen zurück. Der echte Wettbewerb findet mit der staatlichen Verwaltung statt. Ich glaube, „Metro-Regionen“ (die Städte, die Vorstädte und die Umlandgemeinden in der Region) sind eine Einheit. Was der Stadt nützt, nützt dem Umland und was dem Umland nützt, nützt auch der Stadt. Und wenn diese Einheiten zusammenarbeiten, haben sie eine bessere Chance, diese Ressourcen zurück zu erhalten, das Geld, mit dem sie den Staat versorgen. Ein Grund, warum ich ein „Weltparlament der Bürgermeister“ unterstütze, ist, dass die Städte Lösungen erarbeiten können, die allen nützen. Wenn ich die staatliche Ebene ansehe, wird beispielsweise Deutschland größer werden und Polen kleiner. Aber wenn Berlin und Warschau florieren, dann werden sie gemeinsam florieren. Oder das Beispiel Holland. Lange Zeit haben Rotterdam und Amsterdam stark konkurriert. Aber heute haben sie die „G4-Bürgermeister“ (Rotterdam, Amsterdam, Utrecht und Den Haag), die kooperieren. Und was gut für Amsterdam ist, nützt auch den anderen. Was wir daraus lernen ist, dass kooperierende Städte Probleme vermeiden können, bevor sie entstehen In Europa gibt es jahrhundertelange Erfahrungen mit der Rivalität zwischen Städten und Stadtstaaten. Und es gibt ja auch eine gewisse Rivalität in Nordamerika zwischen den Städten an der Ost- und der Wettküste. Diese Gefahr sehen Sie gar nicht? Konkurrenz wird nie verschwinden. Die Frage ist, was die Alternative ist. Was ist gefährlicher: Die Konkurrenz zwischen Deutschland und Russland oder die Konkurrenz zwischen St. Petersburg und München? Natürlich wird es Konkurrenz geben – wie zwischen den holländischen Hafenstädten Rotterdam und Amsterdam, oder in den USA zwischen den Hafenstädten Huston und Los Angeles. Aber auch wenn sie konkurrieren, finden sie gemeinsame Vorteile. Wenn Staaten kooperieren, schwingt immer eine gewisse Feindschaft mit, und daher kooperieren sie nicht. Und auch wenn die Zusammenarbeit zwischen Städten manchmal schwierig ist, ist sie viel leichter und vorteilhafter als wenn Staaten das tun würden. Mein Argument für ein Weltparlament der Bürgermeister ist, wo Städte ihre Probleme ausdiskutieren könnten, würden wir eine Welt erschaffen, die mehr zusammen arbeitet und weniger konkurriert. Sie sagten in einem Interview, dass „tausende Städte besser zusammenarbeiten würden als hundert Staaten“. Es gibt aber auch einen sehr wahren Spruch, dass „zu viele Köche den Brei verderben.“ Wie passt das zusammen? Es kommt darauf an, was für Köche da sind. Wenn die Köche Premierminister wären, hätten sie eine Menge Schwierigkeiten. Bei der UNO haben wir 200 nationale Köche und ständig Konflikte, und fünf ständige Köche im Sicherheitsrat, die niemals übereinstimmen. Der Grund, warum Bürgermeister – auch wenn es viele sind – besser miteinander können ist, weil sie die gleichen Probleme teilen. 1000 Bürgermeister haben alle die gleichen Probleme: Bildung, Wohnung, Transport, Arbeitsplätze, Immigranten, Sicherheit, Gesundheit und so weiter. Und daher arbeiten sie besser zusammen. Und auch wenn sich der demokratische gewählte Bürgermeister von Los Angeles mit dem von einem kommunistischen Zentralorgan installierten und einer Einheitspartei angehörenden Bürgermeister von Schanghai zusammensetzen würde, sie hätten dieselben Probleme. Nicht die Zahl der Bürgermeister entscheiden. Und wenn die Köche alle nach demselben Rezept kochen, schadet das auch nicht – andernfalls wären schon zwei Köche zu viel. Ist das der Unterschied zwischen Sachpolitik auf kommunaler Ebene und Parteipolitik auf staatlicher Ebene? Ja. Nationale Parteien, egal wie man sie nennt, sind durch ideologische Grenzen geteilt. Diese Ideologien kommen auch meist aus dem 19. Jahrhundert, die bestimmende Ideologie („the primarily ideology“) der westlichen Welt ist der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts. Und fragen Sie sich selbst: Was hat ein Konflikt der „19. Jahrhundert-Industriegesellschaft“ mit der Wissensgesellschaft, mit der Migrantengesellschaft, der „globalen Gesellschaft“ des 21. Jahrhunderts zu tun? Es ist eine neue Welt, aber die Parteien sind alle noch entlang der Grenzlinien des Kapitalismus-Sozialismus-Konflikts von vor 200 Jahren organisiert. Kommunen sind das nicht. Migranten und das Immigrationsproblem sind gute Beispiele. Wieso gibt es so viele Migranten auf der Welt? Sie suchen Arbeitsplätze in einer globalen Wirtschaft. Die Logik der Wirtschaft ist ineinandergreifend, die Logik von Staaten ist von Grenzen bestimmt. Die United States sagen, wir haben 12 Millionen illegale Immigranten, aber nach den wirtschaftlichen Aspekten sind sie nicht illegal, sie sind Arbeitssuchende. Wenn es darum geht, die Regeln der neuen globalen Zusammenarbeit zu erkennen, sie die Bürgermeister besser. Die sagen, die Menschen sind hier – legal oder illegal – und wir müssen mit ihnen leben. Sie haben gemeint, dass Staaten weiter bestehen werden. Was wäre deren Aufgabengebiet? Die Aufgaben sind im Ändern begriffen. Wir sagen zwar nationale Sicherheit, meinen aber eine städtische Sicherheit. Terroristen kommen nicht aufs Land, sie kommen in die Stadt. Immer wichtiger werden die nachrichtendienstlichen Aufgaben in den und zwischen den Städten. New York hat zwölf Sicherheitsbeauftragte in zwölf auswärtigen Städten. Der Nachrichtendienst ist im Kampf gegen Terrorismus entscheidend, man muss wissen, was kommt. Keine Marine, keine Luftwaffe, keine Armee kann Terrorismus ohne Nachrichtendienste stoppen, weil das ein sogenannter asymetrischer Krieg ist. Die nachrichtendienstliche Vernetzung zwischen den Städten ist künftig ein entscheidendes Kriterium, deswegen gibt es auch seit kurzem eine "Europäische Organisation für Sicherheit und Verbrechen". Aber um es klarzustellen. Staaten sollen nicht verschwinden, sie haben eine Menge Aufgaben und Funktionen, die sie auch weiter ausführen sollen – Gesundheitswesen zum Beispiel. Der Punkt ist, den Städten und den Regionen ausreichend Macht, ihre Aufgaben, die sie gut erfüllen, weiter gut erfüllen und ihnen erlauben, das gemeinsam zu tun. In der Realität machen sie das ja schon. Kein Staat kümmert sich um den Klimawandel, Städte schon. Wäre aus Ihrer Sicht der UCLG (United Cities and Local Governments, the global Network of Cities ans local and regional Governments) ein Pendent zur UNO? Das UCLG gibt es seit 100 Jahren, die haben wichtige Arbeit geleistet, aber sie sehen sich selbst nicht als politische Organisation, sondern als Netzwerker. Was ich aber meine, ist eine „verwaltende Institution“ sozusagen über dem UCLG, die sich globaler Probleme annimmt und sie auch löst. Heute schon entwickeln sich Städte zu riesigen Metropolen, die kaum mehr regierbar sind. Vor allem asiatische Städte. Und alle haben das Problem, dass sich kaum mehr regierbar sind? Das ist natürlich schwierig, aber Größe ist nicht so das entscheidende Kriterium für Regierbarkeit. London beispielsweise ist gigantisch, aber es eine Stadt der Stadtteile – aber das heißt, dass es auf dieser Ebene wieder eine lokale Verwaltung gibt, die sich um die Dinge kümmert. Große Städte übertragen deshalb die Aufgaben auf diese Ebenen, was sehr gut funktioniert. So machen es ja auch kleinere Kommunen. Die neuen chinesischen Städte, die sind wirklich gefährlich. Diese Städte sind in unglaublich kurzer Zeit auf Millionengröße gewachsen, und da gab es keine Chance, eine lokale Verwaltungsebene aufzubauen. Und noch dazu bauen sie in die Höhe – gigantische Wohnsilos, wo sich keine Nachbarschaft herausbilden kann. Das sind Megacities ohne Struktur, ohne Geschichte, sie sind abstrakt und daher für einen Bürgermeister sehr, sehr schwer regierbar. Nach statistischen Berechnungen leben bis zu 65 Prozent der Bevölkerung in Europa in kleinen und mittleren Kommunen, eher im ländlichen Bereich. Und keine größere Stadt kann ohne ein umfangreiches Umland existieren. Frei nach dem ur-amerikanischen Motto „No taxation without representation!“: Wie sollten die kleinen Gemeinden in einer allfälligen neuen Machtkonstellation repräsentiert sein? Geschichte lastet schwer – und Veränderungen noch schwerer. Aber es ist eine Tatsache, dass sich unsere Welt laufend verändert und wir müssen Schritt halten. Im 19. Jahrhundert lebten 80 Prozent der Amerikaner auf dem Land und fütterten die 20 Prozent, die in den Städten lebten. Heute leben 70 Prozent in Städten und zwei Prozent füttern. Fakt ist, es leben immer weniger Menschen auf dem Land und immer mehr in der Stadt. Und politisch ist die Gefahr, dass die wenigen auf dem Land die vielen in der Stadt dominieren, viel gefährlicher, als umgekehrt. Vor allem, wenn die vielen in der Stadt Immigranten sind und nicht wählen. Eine eher philosophische Frage: Die zunehmende Landflucht weltweit führt dazu, dass immer schneller immer mehr früher besiedelte und kultivierte Gebiete menschenleer werden. Ist so eine Entwicklung für eine immer noch grundsätzlich rural geprägte Gesellschaft gesund? Wer füllt diese Lücke? Agrarkonzerne? Zuallererst: Ich hasse den Begriff Landflucht! Die Leute fliehen doch nicht vor dem Land wie vor einem Monster oder wie vor der Pest! Es leert zwar das Land, aber die Formulierung Landflucht ist völlig überladen. Es ist keine Flucht vor dem Land, es ist die Anziehungskraft der Stadt. Die Leute – oft die Jugend – sind es, die in die Stadt gehen wollen, das ist es. Aber zur Frage, wer füllt das Land. Vorweg: Ich mag keine Agro-Industrie. Monopole, egal welcher Art, sind gefährlich. Ich liebe die Vorstellung von städtischer und regionaler Landwirtschaft. Das ist auch die Art und Weise, wie ich die Integration der Regionen in die Metro-Regionen sehe. Diese Produkte werden heute schon auf Märkten innerhalb der Stadt verkauft und immer mehr Menschengehen auf diese Märkte, weil sie da wissen, was sie kaufen. Ohne Agro-Industrie wird es aber nicht gehen, weil sich viele Menschen unserer Gesellschaften die Wochenmärkte nicht leisten können. In Amerika funktioniert es aber. Im Mittelwesten sind die Leute weg, dort regiert Agro-Business. Aber rund um die Städte florieren die Farmen. Sie bringen ihre Produkte in die Städte und verkaufen dort. Und von dieser Wechselbeziehung profitieren alle. Was wir sehen ist die Rückkehr des bereits verschwundenen kleinen Bauernhofs rund um die Städte. Und darauf gründet auch mein Modell der Metro-Region. Welches Konzept kann es denn beispielsweise für eine (ehemals) stark industrialisierte Region wie das Rheinland geben, die nie große Agrarflächen im Umkreis hatten? Für alle diese Regionen wird natürlich eine gewisse Spezialisierung auf ein Produkt eine Rolle spielen. In gewissen Regionen wächst nun mal kein Weizen, dafür aber Wein. Und mit diesen Spezialisierungen lässt sich auch gut handeln. Deutschland spielt als Wirtschaftsfaktor eine eminent wichtige Rolle in der Welt, hat aber nicht diese großen Städte, von denen Sie sprechen. Wie würde denn die Rolle Deutschlands in einem neuen Machtverhältnis aussehen? In meinem "Parlament der Bürgermeister" gäbe es nach meiner Vorstellung 300 Delegierte nach drei Kategorien. 100 Delegierte würden von Megacities kommen – Städten zwischen fünf und 30 Millionen Einwohner. 100 von mittelgroßen Städten 500.000 bis fünf Millionen und die restlichen 100 von Städten zwischen 50.000 und 5000.000 Einwohnern. Natürlich sind bei diesen "Städten" die Regionen dabei. Ein Land wie Deutschland mit vielen Menschen in vielen Mittelstädten, aber weniger Riesenstädten, wäre sehr gut repräsentiert. Und noch was. Eine Versammlung von vielleicht 60.000 kleinen Kommunen so um die 5000 Einwohner würde nicht funktionieren. Aber wer würde dann die Menschen in diesen kleinen Kommunen repräsentieren? Niemand nimmt denen Macht weg. Im Gegenteil, sie würde weiter die Politik dominieren, so wie sei es jetzt schon tun. Das Problem ist ja eher, dass die Mehrheit in den Städten keine Macht hat, sondern vom Land, von einer Minderheit dominiert wird. In den USA treibt die Tea-Party die Politik vor sich her wie die Bauernpartei in der Schweiz. Wenn die Städte einmal wirklich regieren, dann können wir uns überlegen, wie die Menschen im Umland besser integriert werden, aber bis dahin dauert es noch. Aber das ist doch das dänische Modell, wo es nur mehr 99 Kommunen gibt. Und das italienische und das französische Modell. Jetzt gibt es so Fälle wie den Berliner Bürgermeister, der offensichtlich daran scheitert, einen Flughafen zu bauen. Wie soll so jemand seine Metro-Region vertreten, wo er doch offenbar kein Macher ist? Nehmen Sie Boris Johnson (Bürgermeister von London, Anm.). Er wollte einen Riesenflughafen weit weg von der Stadt bauen und ist daran gescheitert. Bürgermeister haben nicht die Macht, jemandem was "anzuschaffen". Sie müssen Koalitionen bauen und Kompromisse leben. In Berlin hatte der Bürgermeister nie das Einverständnis der Menschen. Die wollten Tempelhof nicht schließen. Und jetzt nach der Schließung war nicht klar, was mit dem Areal passieren sollten und was ist das Ergebnis: Nicht passiert jetzt dort. Aus diesen Beispielen lernt man eines: Die Bürgermeister, die was weiter bringen, sind jene, die Koalitionen bauen und die Menschen – und die Wirtschaft – an Bord holen. Wie in den meisten Diskussionen stellt man auch in dieser fest, dass zu wenige junge Menschen mitreden … Unbedingt! Und auch zu wenige Migranten! Aber wie bindet man diese Gruppen ein, wie können sie mitreden? Aber sie tun es. Wir müssen nur zuhören wollen. Und wir müssen sie finden, auf sie zugehen, ihnen zuhören. Und sie sind da. Eine letzte Frage: Wenn Sie an Metro-Regionen denken, sollten wir dann an Smart Cities oder Smart Countries denken? Ich habe dazu ein Kapitel in meinem Buch: Smart Cities, Untertitel Dumm und dümmer. Technologie ist nur so smart, wie die Leute, die sie verwenden. Technologie ist ein Werkzeug. Aber egal ob Staaten, Städte oder Regionen, Technologie ist nur so gut wie der Ideenreichtum der Menschen, Technologie folgt der Politik. Wenn eine "Smart City" Sensoren platziert, die einem zeigt, wo man parken kann, ist das gut. Aber das bedeutet auch, dass mehr Autos in die Stadt kommen. Jeder sieht ja, wo man parken kann. Aber wenn man keine Autos – oder weniger Autos – in der Stadt will, ist das kontraproduktiv. Zuerst brauchen wir smarte Politik und smarte Bürgermeister, dann bekommen wir smarte Technologien.