Die Mitte stärken

Ortskernbelebung ist kein Selbstläufer. Betroffene Kommunen brauchen tragfähige Konzepte, verbindliche Spielregeln und engagierte Mitstreiter, um den Niedergang zu stoppen.

Auch größere Städte sind vom Niedergang im Lebensmitteleinzelhandel betroffen. Existierten 1966 im Lebensmittelhandel noch 150.000 Geschäfte in Deutschland, sind es heute noch 38.600. Hauptbetriebsformen sind Discounter, speziell die zwei mit den vier Buchstaben, und große Super- und Verbrauchermärkte. Kleine Lebensmittelgeschäfte unter 400 Quadratmeter finden sich dagegen immer seltener. Dabei haben die Verbraucher mit ihren Ansprüchen an den Preis und dank ihrer gestiegenen Mobilität das Wachstum der Discounter und Supermärkte selbst befördert. Diese Betriebsformen wurden immer größer. Sie setzen heute auf Durchschnittsflächen von mehr als 1.000 Quadratmetern. Neue Filialen wurden oft am Ortsrand und auf nicht integrierten Standorten eröffnet. Der Einkauf außerhalb des eigenen Wohnortes hat dort zudem zu einem Rückgang bei anderen Dienstleistungen, wie etwa der Gastronomie, geführt.
Beschleunigt wird die Verödung der Ortskerne durch den Online-Handel: Der Interneteinkauf machte 2014 bereits 15,3 Prozent aller Einkäufe aus. Für 2015 gehen Experten von einer Steigerung bis zu 12 Prozent auf einen Gesamtumsatz des Online-Handels in Höhe von ca. 43 Milliarden Euro aus. Online werden mit 30 Prozent aller Waren bereits heute Mode, Elektroartikel und Bücher bestellt. Für die Kommunen erbringen die ortsungebundenen „Amazons“ dieser Welt aber nicht nur keine Steuern. Sie sind auch oft nur über ein Mehr an Verkehr, CO2- und Lärmbelastungen spürbar. Der Tag und Nacht verfügbare Internethandel entzieht sich zudem der kommunalen Steuerung über das Städtebaurecht.
Dennoch gilt: Der Einzelhandel funktioniert nur mit und nicht gegen das Internet. Der stationäre Einzelhandel muss das Internet offensiv nutzen. Der Erlebniseinkauf vor Ort muss mit dem Interneteinkauf verknüpft werden. Denn die meisten Kunden praktizieren ein „Multi-Channel-Handeln“: Sie kaufen sowohl lokal als auch über das Internet. Ein lokaler Online-Marktplatz wie „Atalanda“, bei dem die Innenstadthändler (Beispiel: Wuppertal) ihr Sortiment im Internet gut präsentieren und die Lieferung noch am Bestelltag garantieren, verbindet den Online-Einkauf mit dem Einkauf im örtlichen Geschäft. Ergänzt werden muss dieses Angebot durch eine Steigerung der Attraktivität für die Kunden, die weiter stationär vor Ort einkaufen. Eine Wohlfühlatmosphäre zu schaffen und die emotionale Seite der Kunden anzusprechen ist daher für die Händler eine Kernaufgabe. Freundliche und kompetente Mitarbeiter, ein attraktives Warensortiment, eine Kinderbetreuung in den Geschäften, integrierte Cafés oder Leseräume, bringen hier oft einen Mehrwert. Der Innenstadthandel kann dabei von den Centern mit ihrem zentralen Management, speziell bei der Durchführung gemeinsamer Aktionen, lernen.
Der Spruch „Der Einzelhandel heißt Einzelhandel, weil er einzeln handelt“ muss der Vergangenheit angehören. Die Instrumente, wonach Geschäftseigentümer ohne die Kommune initiativ werden können, ist mit den „Privaten Initiativen zur Stadtentwicklung“ in § 171 f BauGB, den „Business Improvement Districts (BID)“, und den „Immobilien- und Standortgemeinschaften (ISG)“ da. Diese Instrumente beinhalten einen Paradigmenwechsel. Damit können Eigentümer eigenverantwortlich eine Aufwertung ihres Quartiers (bessere Gestaltung etc.) herbeiführen. Vorteil ist, dass bei einer von der Mehrheit der Eigentümer beschlossenen und mit der Kommune abgestimmten Maßnahme alle anderen Eigentümer, also auch die Minderheit der Gegner, hieran finanziell beteiligt werden. Ein „Trittbrettfahren“ ist daher nicht mehr möglich.
Die Kommunen sind gefordert. Gerade für die Städte und Gemeinden gilt: Vitale Ortskerne haben weit über die Versorgung der Verbraucher hinaus eine zentrale Bedeutung. Für die Bürger haben Innenstädte einen hohen Identifikationswert. Sie sind für Bürger und Touristen Aufenthaltsmittelpunkt und bilden die Visitenkarte. Städte und Gemeinden müssen ihrer Verantwortung zur Ortskernbelebung durch gestalterisch gelungene Einkaufsstraßen, eine gute Baukultur, durch Plätze mit hoher Aufenthaltsqualität, durch gute Wegebeziehungen zwischen den Einzelhandelslagen und auch durch die Gewährleistung von Sicherheit und Sauberkeit nachkommen.
Gefordert sind bei Städten die Stadtplanung, die Wirtschaftsförderung, das Stadtmarketing und das Kulturamt. Gerade ergänzende Angebote, wie etwa Stadtführungen tragen dazu bei, die Identifikation der Bürger mit der Innenstadt zu erhöhen. Die Kommunen müssen bei alle ihren Maßnahmen mit den anderen Betroffenen kooperieren. So sollten etwa vom Handel angebotene Lieferdienste gegenüber den Kunden durch zentrumsnahe Parkraummöglichkeiten oder auch durch eine gute Anbindung der Kunden mit dem öffentlichen Personennahverkehr ergänzt werden.
Die Stärkung der Mitte darf aber nicht nur ein Anliegen von Handel und Kommunen sein. Sie betrifft gerade die Bürger und die vielen privaten Akteure. Auch der Bund bleibt über eine dauerhafte und hohe Städtebauförderung, die gegenwärtig 700 Millionen Euro pro Jahr beträgt, gefordert, die nötigen finanziellen Rahmenbedingungen für lebendige Ortskerne zu schaffen.
Ortskernbelebung ist kein Selbstläufer. Sie benötigt ein strategisches Vorgehen unter zentraler Verantwortung der Kommune. Für die Städte und Gemeinden kommt hinzu, dass Maßnahmen zur Belebung der Ortskerne nur erfolgreich sind, wenn sie mit den Nachbarkommunen in ein interkommunales Einzelhandelskonzept eingebunden werden. Nur durch interkommunal verbindliche Spielregeln zur Ansiedlung von – großflächigen - Einzelhandelsvorhaben auf integrierten Standorten, also auf Stadt- und Ortskerne, kann ein Überhang an Verkaufsflächen und ein „Kannibalismus“ sowohl zwischen den Kommunen als auch innerhalb des Handels verhindert werden.
Interkommunale Einzelhandelskonzepte und die Steuerung des großflächigen Einzelhandels über § 11 Abs. 3 Baunutzugsverordnung mit einer städtebaulichen Verträglichkeitsprüfung bedürfen der Ergänzung. Denn Kommunen können ihre Innenstädte nur stärken, wenn sie mit allen Akteuren, also den Einzelhändlern, den Gastronomen, den übrigen Dienstleistern sowie den Eigentümern, kooperieren. So sind ein Leerstandmanagement und ein enger Kontakt zu den nicht immer leicht auffindbaren Eigentümern (Beispiel: Erbengemeinschaften) Voraussetzung, um etwa bei Geschäftsaufgaben schnell Nachnutzungen zu ermöglichen.
Dabei bedarf es auch ungewöhnlicher Wege: So wurde unter dem Motto „Wir füllen Leerstände“ 2003 in der Stadt Dannenberg in Niedersachsen ein Konzept zur langfristigen Nutzung von Ladenlokalen entwickelt. In persönlichen Verhandlungen konnte die Stadt viele Eigentümer für eine symbolische Grundmiete von einem Euro pro Quadratmeter im ersten Jahr und einer Staffelmiete in den folgenden zwei Jahren gewinnen. Folge war die Neuvermietung von 22 leerstehenden Ladenlokalen.
Die Aktivierung geeigneter Ladenbesitzer erfordert aber auch die Überlegung, ob mehrere – leerstehende – Geschäftsflächen zur besseren Nutzung zusammengelegt werden. Dies wurde bei dem im Jahre 2014 neu eröffneten city outlet center in Bad Münstereifel praktiziert. Dort konnten in der mittelalterlichen Innenstadt in Abstimmung mit dem Denkmalschutz und unter Wahrung der historischen Fassaden neue und attraktive Geschäftsgrößen entstehen.
Starke Innenstädte und Ortskerne brauchen eine gesunde Mischung von Handel, Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Kultur. Speziell eine nachgefragte Gastronomie, die in den warmen Monaten eine Außenbestuhlung bereithält, gehört ebenso wie kulturelle Veranstaltungen zur Innenstadt. Gerade diese Angebote sind es, die für urbanes Flair sorgen und Ortskerne auch am Abend attraktiv halten. Auch regelmäßige Markttage, bei denen frische Produkte aus der Region angeboten werden, führen genauso wie Spielplatzangebote für Kinder, Treffpunkte für Familien sowie das Aufstellen von Bänken als Kommunikationstreffpunkt zur Belebung.
Eine lebendige Ortskernentwicklung braucht einen langen Atem. Sie muss stets den Blick für das Ganze behalten. Das Zusammenbringen und das Motivieren der richtigen Akteure insbesondere aus Kommunalvertretern, Eigentümern, Geschäftsleuten, Vereinen, Kirchen und der Bürgerschaft ist dabei wesentlich. Zudem sollten die Wünsche der Kunden erfragt werden, um Maßnahmen zur Ortskernbelebung gezielt umzusetzen. Bei komplexen Prozessen macht auch die Einbindung neutraler Moderatoren Sinn.
Eine erfolgreiche Stärkung der Ortskerne benötigt verbindliche „Spielregeln“ zwischen allen Akteuren. Diese vereinbarten Ziele können in der Durchführung von Stadtfesten, Märkten und Jahrmärkten, offenen Sonntagen oder anderen öffentlich-privaten Initiativen liegen. Es gilt: Je kleiner eine Gemeinde, desto mehr kann vom freiwilligen Engagement der Bürgerschaft erwartet werden. Ein Vorreiter ist insoweit das schon lange existierende DORV-Zentrum (Dienstleistung und Ortsnahe Rundum Versorgung) in Jülich-Barmen.
Dieses DORV-Zentrum bringt zusammen, was (nicht) zusammengehört. Nicht nur Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs, sondern auch Dienstleistungen werden an der Ladentheke angeboten. So kann ein Kunde seinen Sonntagsbraten kaufen wie auch einen neuen Führerschein beantragen oder das Rezept seines Arztes abgeben – und das alles bei derselben Person. Prägend für das Konzept ist neben einem guten Angebot an frischen Produkten wie Fleisch, Obst und Gemüse aus der Region das Bereithalten anderer Dienstleistungen (Sparkasse, Versicherungsagentur, Reisebüro, Paketdienst, Arzt). Das DORV-Zentrum ist zudem Kontaktpunkt für die Bürger bei einer Tasse Kaffee und kultureller Veranstaltungsort. Die Bürger sind damit gleichzeitig Kunden und Betreiber des Zentrums.
Fazit: Über die genannten Beispiele hinaus lassen sich weitere gute Initiativen zur Ortskernbelebung nennen. Zu erwähnen sind nur die Stadt Bocholt in Nordrhein-Westfalen mit ihrer öffentlich-privaten Kooperation, Dillenburg in Hessen („Runter vom Sofa – Mach deinen Laden“), Neustadt an der Weinstraße in Rheinland-Pfalz mit der „Innenstadtoffensive“ oder die „Große Emma“ in Zabeltitz (Sachsen). Alle Maßnahmen sind im Einzelnen unterschiedlich. Es gibt daher keinen Königsweg. Dennoch gilt für die Initiativen ein gemeinsamer Grundsatz: Alle Akteure sind früh und dauerhaft in den Prozess der Ortskernbelebung einzubinden. Die Maxime lautet: „Innenstadt und Ortskern, das sind wir alle!“

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