EU vom Kopf auf die Füße stellen

EU-Präsident Martin Schulz: er verließ die Schule mit mittlerer Reife, mit Anfang 20 fand er eine Räumungsklage in seinem Briefkasten. Die Arbeitslosenhilfe wurde gestrichen, er begann zu trinken, Freunde und Familie wendeten sich ab. Doch er rappelte sich wieder auf, eröffnete einen Buchladen, wurde Kommunalpolitiker, später Bürgermeister in Würselen. KOMMUNAL sprach mit dem EU-Präsidenten über „Dorfpolitiker“, Gurkenkrümmungen und die aktuelle Flüchtlingspolitik.

Herr Schulz, Sie kommen aus der Kommunalpolitik – waren Bürgermeister von Würselen. Im Vergleich „EU zu Kommunen“: Wo kann man mehr für die Menschen vor Ort tun? 
So unterschiedlich Kommunal- und EU-Politik auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, ihre Aufgabe ist letztendlich die gleiche: das Leben der Menschen zu verbessern. Die Kommunalpolitik hat hierbei den großen Vorteil, ganz nah an den Bürgerinnen und Bürgern dran zu sein und so sehr schnell auf ihre Anliegen reagieren zu können. Allerdings erreicht die europäische Politik  mit ihren Entscheidungen natürlich ungleich mehr Menschen.

KOMMUNAL-Geschäftsführer Michael Zimper im Gespräch mit Martin Schulz

Wenn die EU über Dinge wie Gurkenkrümmungen spricht, müssen die Menschen nicht den Eindruck bekommen, die EU ist – anders als die Kommunen - sehr weit weg von den Dingen? Wie kann man das verbessern?  
Der Eindruck ist erst einmal richtig. Die EU ist oft zu bürokratisch und zu weit weg von den Menschen. Deshalb gehöre ich auch zu denjenigen, die seit Jahren dafür kämpfen, sie zu reformieren. Die EU muss aufhören, sich in Dinge einzumischen, die sie besser anderen überlassen sollte, weil sie es besser können. Was lokal, regional oder national geregelt werden kann, soll auch dort entschieden werden. Europa muss sich auf die großen Fragen konzentrieren, etwa auf die weltweiten Handelsbeziehungen, den Kampf gegen Spekulation, Steuerflucht und -vermeidung, den Klimawandel, auf Migrationsfragen oder auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität.  
Sie leben – wenn Sie nicht gerade in Brüssel sind – mit ihrer Familie in Würselen. Werden Sie dort noch als der „Dorfpolitiker“ wahrgenommen oder begegnen Ihnen die Menschen anderes?  
Ich war von 1987 bis 1998 Bürgermeister in Würselen. Davor saß ich bereits drei Jahre im Stadtrat. Die Stadt ist meine Heimat, ich habe dort meine persönlichen und politischen Wurzeln. Ich hoffe, dass ich den Menschen in Würselen offen begegne und sie merken, dass ich der Gleiche geblieben bin, egal ob ich Bürgermeister oder Parlamentspräsident bin.
Benjamin Barber fordert in seinem Buch „Bürgermeister an die Macht“ das Weltparlament der Bürgermeister. Hat er Recht?  
Als Bürgermeister habe ich Erfahrungen sammeln können, von denen ich noch heute profitiere. Anders gesagt: die Kommunalpolitik ist die ideale Schule und ich kann nur jedem, der sich für Politik interessiert, raten, in die Kommunalpolitik zu gehen. Deswegen wehre ich mich auch vehement gegen all jene, die Kommunalpolitik als minderwertig im Vergleich zu Landes-, Bundes- oder Europapolitik abtun.
Zur großen Politik: Sie fordern ganz aktuell wieder mindestens drei Milliarden Euro für Griechenland und angesichts der Klagen über fehlende Kooperationsbereitschaft der Griechen: Wie erklären Sie das den Menschen, die in Würselen gerade darüber diskutieren, wie sie eine Gesamtschule in die Stadt bekommen und wie die Bildung für die Kinder in Zeiten knapper Kassen verbessert werden kann? 
Die griechische Krise ist auch eine europäische Krise. Der Euro ist unsere gemeinsame Währung und das Ausscheiden eines Landes aus dem Euroraum hätte verheerende Folgen für die politische Zukunft der Europäischen Union. Deshalb liegt die Lösung der Schuldenkrise in unser aller Interesse. Allerdings ist auch klar: Solidarität ist keine Einbahnstraße. Die Griechen müssen jetzt zügig robuste Reformen anpacken, die das Land voran bringen.
Der Flüchtlingsstrom aus Nordafrika nach Europa schlägt stark von der „hohen Politik“ auf die Kommunen durch – wie kann es gelingen, dass die Kommunen mit dem Thema nicht alleine gelassen werden?  
Es ist in der Tat so, dass die Krisen im Nahen Osten und in Nordafrika zu Flüchtlingszahlen geführt haben, die viele Kommunen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten bringen. Hier sind Bund und Länder gefordert, die Kommunen zu unterstützten, auch finanziell. Aber ich möchte auch an unsere Solidarität appellieren. Menschen, die von einem Tag auf den anderen alles stehen- und liegenlassen, um zu uns nach Europa zu kommen, tun das nicht aus Jux und Tollerei. Sondern weil sie vor Krieg und Verfolgung fliehen müssen. Diese Menschen verdienen es, bei uns Schutz und eine Chance zu bekommen.
Wieso schafft es eine immer noch superreiche Europäische Union nicht, dafür zu sorgen, dass nicht tausende Flüchtlinge vor unseren Küsten ertrinken?  
Die ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer sind eine Schande für Europa. Lampedusa ist zum Symbol einer gescheiterten Politik geworden. Es kann nicht sein, dass die Grenzen unserer europäischen Wertegemeinschaft zu den tödlichsten weltweit zählen. Was wir brauchen, ist eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik, deren unbestrittene Grundlage unsere humanitäre Verpflichtung sein muss. Aber wir müssen auch die Verantwortung gerechter verteilen. Zudem benötigen wir in Europa schnellstmöglich einen Rahmen, der die legale Einwanderung regelt. In der legalen Einwanderung liegt eine große Chance für unseren Kontinent - wir sprachen bereits über die demographische Herausforderung der nächsten Jahrzehnte. Sie ist aber auch eine Perspektive für viele Menschen außerhalb Europas, die nur darauf warten sich mit ihren Fähigkeiten positiv in unsere Wirtschaft und Gesellschaft einzubringen.
Ergänzen Sie zum Schluss bitte noch folgende Sätze:  
Für mich ist Heimat ...  da, wo ich aufgewachsen bin, wo ich meine Wurzeln habe und wo ich mit meiner Familie lebe, in Würselen.
Familie ist ...  das Wichtigste in meinem Leben. Sie ist auch ein Rückzugsort, um Abstand zu gewinnen und Ruhe zu finden.
Politik ist ... eine große Leidenschaft, sie ist aber nicht alles in meinem Leben. Wichtig ist, sich auch ein Leben neben der Politik zu bewahren.
Das letzte Mal glücklich war ich ... Mich machen viele kleine Dinge im Alltag glücklich, ein gutes Buch oder eine Fachsimpelei über Fußball mit Mitarbeitern. Es braucht nicht immer politische Erfolge, um zufrieden zu sein.
Im Ruhestand sehe ich mich ... noch lange nicht. Ich habe als Parlamentspräsident noch knapp zwei Jahre vor mir, die ich mit großem Engagement ausfüllen werde.

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