Gefahr einer Entfremdung

Die Bürger und ihre Bürgermeister - und ihre Sicht auf die Lage ihrer Kommune. Ein Kommentar von Prof. Manfred Güllner, Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstitus Forsa.

Dass die Lebensqualität in ihrer Stadt bzw. Gemeinde in den vergangenen fünf Jahren gestiegen sei, meinen 29 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger in ganz Deutschland. Dass die Lebensqualität gesunken sei, meinen 17 Prozent. Die Mehrheit von 52 Prozent aber sieht in ihrer Stadt bzw. Gemeinde weder eine Entwicklung zum Vorteil noch zum Nachteil. Bei der Einschätzung der Bürger wie sich ihr Wohnort in den letzten Jahren entwickelt hat, zeigen sich deutliche regionale Unterschiede. So meinen 38 Prozent der Bürger in den neuen Bundesländern und 34 Prozent der Bürger in Bayern und Baden-Württemberg, die Lebensqualität in ihrer Gemeinde bzw. Stadt hätte sich in den letzten Jahren verbessert. Im Rest der Bundesrepublik (also in den alten Bundesländern ohne Bayern und Baden-Württemberg) meinen dies hingegen nur 22 Prozent. Dass Ost- und Süddeutsche die Entwicklung in ihrer Stadt bzw. Gemeinde positiver beurteilen als die Bürger der übrigen Regionen, ist durch die objektive Entwicklung und die generellen Rahmenbedingungen noch nachzuvollziehen: In den neuen Bundesländern gibt es ja in der Tat in einigen Regionen Entwicklungen in Richtung der von Kanzler Kohl verheißenen „blühenden Landschaften“ und in Bayern hat man die lokale Vielfalt an Gemeinden erhalten und keine radikale Gebietsreform wie etwa in Nordrhein-Westfalen mit dem Verlust jedweder lokaler Identität vorgenommen. Doch wie ist die große Diskrepanz zwischen der Einschätzung der Bürger und der der Stadt- bzw. Gemeindeoberhäupter zu erklären; denn während die Hälfte der Bürgermeister die Entwicklung in der eigenen Gemeinde positiv einschätzt, tut dies noch nicht einmal ein Drittel der Bürger. Auffällig ist dabei, dass in den Gemeinden der neuen Länder diese Diskrepanz zwischen Bürgern und Bürgermeistern nicht festzustellen ist. Wenn die häufig zu hörende These richtig ist, dass in Ostdeutschland generell und besonders durch die zahlreichen Bürgermeister der Linkspartei eine überwiegende pragmatische Kommunalpolitik betrieben wird, könnte dies ein Erklärungsansatz für die ansonsten zu registrierende Diskrepanz zwischen der Einschätzung der Bürger und Bürgermeister sein. In den alten Bundesländern orientiert sich die lokale Politik nämlich zunehmend nicht mehr an den tatsächlichen Interessen der Bürger, sondern an eher ideologischen Dogmen der jeweils in den Gemeinden stärksten Parteien. Die Erwartungen der Bürger an die kommunale Politikebene aber unterscheiden sich von der an die anderen Ebenen der Politik auf Landes- oder Bundesebene. In den Kommunen erwarten die Bürger, dass die Parteien sach- und konsensorientiert eher an einem Strang ziehen und keine ideologischen Kontroversen im Rathaus austragen. Geschieht dies nicht, führt das immer öfter zu der in Westdeutschland zu registrierenden Entfremdung zwischen den Bürgern einer Gemeinde und den politischen Akteuren vor Ort. Als Folge solcher Entfremdungsprozesse steigt der Unmut vieler Bürger über die Art und Weise, wie vor Ort Politik betrieben wird – abzulesen an der immer größer werdenden Zahl von Nichtwählern bei kommunalen Wahlen.