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Reportage Schlau-Schule

Die SchlaU-Schule ist eine staatlich anerkannte Schule für junge Flüchtlinge in München. Rund 220 Jugendliche werden hier analog zu den Hauptfächern der bayerischen Haupt- und Mittelschulen in bis zu 15 Klassen unterrichtet und zum Schulabschluss geführt.

*, der in der ersten Reihe sitzt, will Popstar werden, und wenn das nicht klappt, Elektriker. Nach zwei Jahren in Deutschland konjugiert der 18-Jährige deutsche Verben locker rauf und runter, und doch verstehe er oft kein Wort auf der Straße, sagt er und grinst. „Wenn die Leute bayrisch reden.“ Im Sommer will er seinen Mittelschulabschluss machen, doch wenn es schlecht läuft, wird er vorher nach Afghanistan abgeschoben.
Naima, die neben ihm sitzt, ist vor drei Jahren aus Mogadischu geflohen und träumt jetzt von einer Ausbildung zur Arzthelferin. Aber wer gibt einer 19-Jährigen, die vielleicht schon in drei Jahren zurück nach Somalia muss, eine Lehrstelle? Sie wird besser sein müssen als die anderen Bewerber, und manchmal, wenn Mehdi im Unterricht wieder nur Witze reißt, zischt sie ihn an: „Kannst du nicht mal fünf Minuten still sein?“

Eine Lehre oder ein Beruf rückt auf einmal in greifbare Nähe

In der Klasse von Deborah Holleitner, die alle nur „Debbie“ nennen, sitzen 15 junge Männer und Frauen, die sich auf den Weg vom äußeren Rand der Gesellschaft in Richtung Mitte gemacht haben. Vor nicht einmal drei Jahren konnten Mehdi, Naima und die anderen kaum ein Wort Deutsch. Jetzt rückt der Abschluss näher, und mit einem Mal scheinen eine Lehre und ein Beruf, scheint eine Zukunft in Deutschland zum Greifen nah, obwohl sich die meisten von einer Aufenthaltsfrist zur nächsten hangeln.
Die „SchlaU-Schule“, Deutschlands einzige anerkannte Schule, in der ausschließlich junge Flüchtlinge lernen, liegt versteckt zwischen Schnell-Restaurants und Nagelstudios im Münchner Bahnhofsviertel. Neben der Shisha-Bar „Babylon“ führt ein unauffälliger Eingang in ein enges Treppenhaus. Drei Stockwerke darüber öffnet sich eine Glastür in ein knallbunt gestrichenes Foyer, in dem sich Lehrer und Schüler mit Handschlag begrüßen wie alte Freunde und über alles plaudern, was so ansteht, von Champions League bis Liebeskummer. „Der vertraute Umgang mag ungewöhnlich wirken“, gibt Melanie Weber zu. „Aber“, so die stellvertretende Schulleiterin, „wir sind eben keine gewöhnliche Schule.“

Das Verhältnis zwischen Flüchtlingen und Lehrern ist vertrauensvoll

Viele Schüler mussten ihre Familie in der Heimat zurücklassen, nicht wenige sind traumatisiert. Hinzu komme die ständige Angst, abgeschoben zu werden. Zwar arbeite die Schule eng mit Beratungsstellen und Jugendhilfe zusammen, aber oft kämen die Jugendlichen mit ihren Sorgen eben zu ihren Lehrern, sagt Melanie Weber. Ein Vertrauen, das möglich wird, weil sie hier, auf zwei Büroetagen im Bahnhofsviertel, nicht nur als Flüchtlinge gesehen werden, sondern auch als junge Menschen, die Dreisatz oder Präteritum lernen wollen.
Jungen Flüchtlingen eine Chance auf Teilhabe geben – das war der Grundgedanke von Michael Stenger, der die SchlaU-Schule im Jahr 2000 gründete. Stenger, damals Lehrer für Deutsch als Fremdsprache, war aufgefallen, dass immer mehr Teenies in seinen Sprachkursen saßen. Der Grund: Nach ihrem 16. Geburtstag hatten sie kein Recht mehr auf den Besuch einer Regelschule in Deutschland – eine Lücke im System. Er entwickelte ein Konzept namens „Schulanaloger Unterricht für junge Flüchtlinge“, kurz: „SchlaU“, und stellte die ersten Klassen zusammen.

Ein Lernprozess für alle Beteiligten

Mit Erfolg. 2004 erkannte das bayerische Kultusministerium die SchlaU-Schule als Berufsförderungseinrichtung an, seither können Schüler, die Grund-, Mittel- und Abschlussstufe der SchlaU-Schule erfolgreich absolviert haben, die Mittelschulprüfung ablegen. Von der ersten Unterrichtsstunde bis zur Prüfung können, je nach Vorbildung und Lerntempo, zwei bis vier Jahre vergehen. Ein weiter Weg, den nicht jeder bis zu Ende geht, doch wer sich, wie Mehdi, Naima und die anderen aus Deborah Holleitners Abschlussklasse, der Prüfung stellt, besteht sie in der Regel auch.
Es war ein Lernprozess für alle Beteiligten. Für den Gründer Michael Stenger, der heute nicht mehr in der Schulleitung tätig ist, sondern politische Arbeit für Flüchtlinge macht. Und für das Kollegium sowieso, schließlich wusste zunächst niemand, welche Art von Unterricht junge Flüchtlinge brauchen. Passende Lehrmittel? Auch Fehlanzeige.

Die Schulmaterialien sind oft hausgemacht

Heute gehört Schulentwicklung fest zum Alltag an der SchlaU-Schule. Vor allem im Fach „Deutsch als Fremdsprache“, das Dreh- und Angelpunkt des Fächerkanons ist. „Die meisten Lehrbücher, die es auf dem Markt gibt, wurden für eine Zielgruppe entwickelt, die eine zweite oder dritte Fremdsprache lernt“, sagt Anja Kittlitz. Die Bildungsforscherin begleitet den Entwicklungsprozess an der SchlaU-Schule wissenschaftlich. Das Tempo sei zu hoch, die Themen oft unpassend. „In den Arbeitsbüchern geht es zum Beispiel um Themen wie die Familie oder den letzten Italienurlaub“, so Kittlitz. Was in einem Fall bedrückende Erinnerungen bei Flüchtlingen wecken könne, im anderen wie Hohn wirke. „Es ist wichtig, dass der Unterricht auf die jeweiligen psychischen Belastungssituationen Rücksicht nimmt“, so Kittlitz. An der SchlaUSchule wird deshalb oft mit hausgemachten Materialien gearbeitet.
Zudem wurde den Lehrern schnell klar, dass das eigentliche Lernen nur gelingen kann, wenn die Schule zugleich die Persönlichkeitsentwicklung und das Selbstwertgefühl ihrer Schülerinnen und Schüler im Auge hat. Ergänzend zum Unterricht gibt es beispielsweise eine Schach-AG, eine Schulband, Nähkurse und eine Theatergruppe – ein Angebot, das ohne Ehrenamtliche nicht möglich wäre. Auch scheinbar nebensächliche Dinge, wie möglichst wenige Lehrerwechsel, haben sich als stabilisierend für Schullaufbahnen erwiesen. „Der Erfolg des Unterrichts hängt entscheidend von einer guten Lehrer-Schüler-Beziehung ab“, sagt Forscherin Kittlitz.

An anderen Schulen bleiben Flüchtlinge oft Außenseiter

Mittlerweile teilt die Schule ihre Erfahrungen mit Berufsschulen in Bayern, die eigene Klassen für Flüchtlinge eingerichtet haben. Fortbildungen in „Deutsch als Fremdsprache“ oder „Trauma-Pädagogik“ schulen Lehrer im Land für eine Aufgabe, die kein Uni-Seminar lehrt – noch nicht. Und so sind die Kollegen an den Regelschulen oft überfordert mit der Situation und die Flüchtlinge bleiben Außenseiter. Inklusion bleibt Illusion.
„Natürlich lernen wir selbst auch ständig dazu“, sagt Vize-Schulleiterin Melanie Weber, auf deren Konferenztisch an diesem Vormittag eine große Tüte voller Kondome liegt: Die Projektwoche zum Thema Sexualkunde beginnt, den Auftakt machen Mitarbeiter einer Frauenberatungsstelle mit einem Workshop zum Thema „Freiheit und Partnerwahl“. „Nicht ganz einfach“, weiß Melanie Weber. „Für manche ist es selbstverständlich, dass die Eltern den Partner mit aussuchen, für andere nicht.“

Die Rolle der Frau ist ein schwieriges Thema

Auch was die Rolle der Frau angehe, gebe es unterschiedliche Standpunkte der Schüler. „Wir wollen die Meinungen nicht werten, aber auf Basis der Menschenrechte diskutieren“, so Weber. Ein Kollegium, das zu 80 Prozent aus Frauen besteht, sei natürlich für sich ein Standpunkt, der sich schwer ignorieren lasse.
Auch wenn es in den Zeitungen manchmal so klingt: Die SchlaU-Schule macht nicht jeden Analphabeten zum Hochschulaspiranten. Aber sie hilft jungen Menschen dabei, ihren eigenen Weg zu gehen – in eine Ausbildung, an eine weiterführende Schule oder gar an die Universität. Wege, die nicht nur von Fleiß und Ehrgeiz abhängen, sondern auch von einer Gesellschaft, die bereit ist, junge Menschen aus dem Ausland aufzunehmen: Der 19-jährige Victor aus Nigeria, der in der letzten Reihe in Deborah Holleitners Unterricht sitzt, hebt den Finger, weil er etwas erzählen möchte. Manchmal, wenn er mit der S-Bahn zur Schule fahre, kämen Kontrolleure in den Wagen, sagt er. Sie gingen auf und ab und wollten am Ende nur ein einziges Ticket sehen: seins.

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