Luftaufnahme Stendal im Jahr 2000 ©Stadt Stendal

Das Herz der Altmark

30. Juli 2015
In Stendal ist ein ganzer Stadtteil dem Erdboden gleich gemacht worden – Renaturierung. Wie funktioniert das? Wie nimmt man die Bürger mit? Der Bürgermeister von Stendal berichtet exklusiv für KOMMUNAL, wie sein Heimatort damit umging.

Oberbrügermeister Klaus Schmotz ©Stadt Stendal

Die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes und der damit verbundene wirtschaftliche Umbruch bereitete dem Kraftwerksprojekt ein schnelles Ende. Viele der wegen des Bauvorhabens zugezogenen Arbeitskräfte verloren ihren Arbeitsplatz und verließen die Region wieder. Die hohe Arbeitslosenrate, im Jahr 2000 waren es 22 Prozent, hatte insgesamt sehr hohe Abwanderungszahlen zur Folge. Die Stadt verlor in diesem schmerzhaften Schrumpfungsprozess mehr als 30 % ihrer Einwohner.
Der damals jüngste Stadtteil Stendal-Süd entvölkerte sich regelrecht. Um diesen unverschuldeten Schrumpfungsprozess zu bewältigen, wurden neue stadtplanerische Strategien entwickelt und ein Sanierungs- und Anpassungsprogramm für die Infrastruktur und den Wohnungsbestand eingeleitet.
Zurück zur Mitte – unter dieser Zielstellung sind einerseits der Wohnungsmarkt in der Stadt durch Abriss um rund 6000 Einheiten „bereinigt“ und gleichzeitig die Sanierung und der Wiederaufbau der zu DDR-Zeiten sträflich vernachlässigten historischen Altstadt mit aller Kraft begonnen worden. Stadtplaner und die Politik haben diesen konsequenten, einzig richtigen Weg - die Stadt von außen nach innen schrumpfen zu lassen beschritten und auch damit Stendal als regionales Zentrum der Altmark und attraktivem Wohnstandort handlungs- und zukunftsfähig gemacht.
Mit dem Stadtteil Stendal-Süd, die letzten Gestaltungsarbeiten an den Außenanlagen des Wohngebietes wurden noch 1992 ausgeführt, wurde zum ersten Mal in Sachsen-Anhalt für ein ganzes Wohngebiet per Stadtratsbeschluss der komplette Rückbau eingeleitet.
Die beiden dominierenden Wohnungsbauunternehmen in der Stadt waren von Anfang an Partner. Durch Umzüge der verbliebenen Mieter im Stadtteil Süd in das andere große Neubaugebiet, konnten komplett leere Wohngebäude, in massiven Abrissaktionen vom Markt genommen wurden.
Die Menschen denen dieses junge, moderne Wohngebiet ein Zuhause gab, wurden von Anfang an in diesen Prozess einbezogen. Trotzdem entwickelten sich naturgemäß Abwehrhaltungen und Ängste. Dass gewohnte, liebgewonnene Umfeld verlassen zu müssen oder Einschränkungen der Versorgung im unmittelbaren Umfeld hinnehmen zu müssen, war anfangs für viele undenkbar. Denn in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung hatte das Wohnviertel zahlreiche neue Einkaufsmöglichkeiten und Dienstleistungsangebote hinzugewonnen.
Jede neue Situation wurde mit den Bürgerinnen und Bürgern in Bürgerversammlungen des Stadtoberhauptes vor Ort besprochen. Hilfestellungen durch Beratung und beim Umzug sind umfänglich vorhanden gewesen. Wohnungen in anderen Stadtteilen konnten in allen Preislagen angeboten werden.
Die zahlreichen Einwohnerversammlungen und eine offensive Informationspolitik waren neben den Hilfsangeboten, die wichtigsten Maßnahmen um der betroffenen Bürgerschaft, eine dauerhafte Perspektive in einer anderen Wohnlage aufzuzeigen und die Bereitschaft bei den Menschen für die unvermeidliche Veränderung zu befördern.
Die übergroße Mehrzahl der Bewohner hat aus eigenem Antrieb, in der Erkenntnis notwendige Veränderungen akzeptieren zu müssen, ihren Lebensmittelpunkt in andere Stadtteile verlegt. Menschen die nicht in der Lage waren aus eigener Kraft diesen Schritt zu vollziehen, wurden in Hilfeprojekte der Sozialverbände vermittelt.
Der drastische Rückgang der Einwohnerzahlen im Wohngebiet hat mit den beginnenden Abrissarbeiten natürlich auch die ansässigen Unternehmen – Discounter und Einzelhandel ihrer Wirtschaftlichkeit beraubt und zur Schließung geführt. Arztpraxen, Versicherungsbüros und Gaststätten wurden aufgegeben oder in die Innenstadt verlagert.
Innerhalb weniger Jahre konnte der gesamte Bestand der beiden Unternehmen an Wohnungen im Stadtteil Süd vom Markt genommen worden.
Ein Restbestand von rund 500 Plattenwohnungen der in den 1990er Jahren in private Hand gelangte, ist heute noch, mittlerweile unbewohnbar, im Stendaler Süden vorhanden. Mit häufig wechselnden Eigentümern über die Jahre und sechsstelligen Schulden bei den Versorgungsunternehmen, warten diese Immobilien auf den nächsten Zwangsversteigerungstermin. Der Niedergang ist nicht mehr aufzuhalten, letztlich wird auch hier der Abriss unvermeidbar kommen. Perspektivisch könnte das Areal dann einer Renaturierung zugeführt werden.
Inzwischen sind jedoch auch andere zukünftige Szenarien denkbar. Die vorhandene Infrastruktur könnte für die Bereitstellung von Eigenheimbauplätzen eine Zukunft bekommen. Die Einwohnersituation der Stadt hat sich glücklicherweise stabilisiert. Junge Menschen vertrauen wieder der erfolgreichen Entwicklung der letzten Jahre und wählen Ihren Lebensmittelpunkt in der Hansestadt Stendal.
Die Stadt hat sich zu einem lebendigen Zentrum im ländlichen Raum entwickelt. Eine lückenlose, vielfältige Bildungslandschaft inclusive Hochschule, hochwertige Kultur- und Freizeitangebote ein preisstabiler Wohnungsmarkt und die Nähe zu den Ballungszentren Berlin und Hannover, sind vorteilhaft für junge Menschen mitten im Leben und die sehr gute medizinische und soziale Versorgungslage, zunehmend auch für Senioren attraktiv.
Die Hansestadt Stendal sieht im 850. Jahr ihrer Stadtgeschichte wieder mit stabilen strukturellen und finanziellen Verhältnissen optimistisch in die Zukunft.

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