Die Tafel Bernau
"Essen, wo es hingehört" ist das Motto der Tafel Deutschland
© S. Heinze

Lebensmittelrettung

Die Tafel in Zeiten von Corona: Bedarf im Überfluss

Die Coronavirus-Pandemie zeigt, wie verletzbar die Gesellschaft wirklich ist. Die Tafeln wollen einen Beitrag leisten, um Menschen mit geringen Einkommen oder Lohnersatzleistungen zu günstigen Preisen Lebensmittel anzubieten. Gleichzeitig leisten sie einen Beitrag gegen Lebensmittelverschwendung.

"Essen, wo es hingehört“ ist das Motto, dem sich die Tafel verschrieben hat. Als ich das Gelände der Hauptgeschäftsstelle in Bernau um 9 Uhr betrete, herrscht reger Betrieb. Während Helfer gerettete Lebensmittel von einem Transporter holen, wird gerade ein anderes Fahrzeug mit frisch gepackten Lebensmittelkisten beladen. „Tafel-Mobil“ liefert den Kunden die Lebensmittel direkt nach Hause. Zurzeit profitieren davon alle, die es aus alters- oder gesundheitlichen Gründen nicht zur Tafel schaffen. Den Geschäftsführer Peter Raske treffe ich in seinem Büro. Von dort startet unser Rundgang. Er zeigt mir die Ausgabestelle, das Café, den Aufenthaltsraum sowie die Lagerräume. Außerdem besitzt der Verein vier große Kühlcontainer. „Keine Selbstverständlichkeit für eine Tafel“, sagt Raske stolz.

Die Tafel: Nachhaltigkeit und Humanität stehen ganz oben

Die Tafel Bernau ist eine von bundesweit mittlerweile 948 Tafeln, die im Dachverband „Tafel Deutschland“ organisiert sind. Dabei können die Strukturen sehr unterschiedlich ausfallen. In Bernau handelt es sich um einen Verein. Leitbild und Grundsätze hat der Dachverband definiert. An oberster Stelle stehen Nachhaltigkeit und Humanität. Damit knüpft der Verband an die Gründung der bundesweit ersten Tafel im Jahr 1993 in Berlin an. Ein Vortrag der damaligen Sozialsenatorin Ingrid Stahmer zum Thema Obdachlosigkeit und das Konzept der City-Harvest-Initiative New York hatten den Stein ins Rollen gebracht. Eine Fraueninitiative versuchte, die Lebensmittelhändler davon zu überzeugen, überschüssige Waren zu spenden. Kein leichtes Unterfangen! Doch es gelang: Nach ersten Erfolgen sollten neben Obdachloseneinrichtungen auch weitere soziale Organisationen davon profitieren.

Peter Raske Geschäftsführer der Tafel Bernau
Geschäftsführer Peter Raske in seinem Büro

Deutschlandweit nutzen rund 1,65 Millionen Menschen die Unterstützung durch die Tafeln.  Dazu zählen vor allem ALG II-Empfänger (47 Prozent), Rentner (26 Prozent) und Asylbewerber (20 Prozent). In Bernau sind es vor allem Senioren. Allerdings fällt Geschäftsführer Raske auf, dass in der Coronakrise wieder mehr Familien kommen, weil die Mahlzeiten für die Kinder in der Kita oder in der Schule fehlen. Denn mit der Schule fällt auch das Schulessen aus. Es muss zu Hause gekocht werden. „Das sind zum Teil Familien, die sogar arbeiten gehen, aber nur den Mindestlohn bekommen. Die Geringverdiener von heute, da müssen wir uns nichts vormachen, sind die Tafelkunden von morgen“, sagt Raske. Für Alleinerziehende und kinderreiche Familien sei die Situation besonders prekär.

Durch die Schließung des Tafel-Cafés fehlten wichtige Einnahmen

Die Vorschriften aufgrund des Coronavirus stellten die Tafel vor neue Herausforderungen. Das betrifft vor allem die Einhaltung der neuen Hygienebestimmungen. Außerdem musste das Café für Wochen schließen, wodurch dem Verein wichtige Einnahmen fehlen. An Lebensmitteln mangelt es der Tafel Bernau dagegen nicht. „Es wird immer noch so viel weggeworfen. Das können wir gar nicht alles retten“, sagt Raske. Weil es sich bei den Lebensmittelspenden für die Tafel meist um Frisch- und weniger um Trockenwaren handelt, waren die Hamsterkäufe kein Problem. Durch die Einschränkungen in der Gastronomie standen teilweise sogar mehr Lebensmittel zur Verfügung als sonst. Der Personalabbau in Supermärkten wiege da schon mehr. Schließlich bedeutet die Abstimmung mit der Tafel für die Angestellten zusätzliche Arbeit. Überhaupt scheint die größte Herausforderung des Tafelgeschäfts in der Logistik zu liegen. Denn für Abholung und Verteilung der Lebensmittel braucht es entsprechende Fahrzeuge. Der Unterhalt der aktuell vier Transporter, die das Rückgrat des Tafelbettriebs bilden, ist vergleichsweise kostspielig.

In Ostdeutschland ist der Querschnitt aus Ehrenamtlichen und Nutzern stärker ausgeprägt

Viele der Ehrenamtlichen, die hier anpacken, sind selbst Nutzer. Ein Querschnitt, der in Ostdeutschland stärker ausgeprägt ist. Dort zählen je nach Bundesland 50 bis 74 Prozent der Tafel-Aktiven zu den Nutzern. Zum Vergleich: In Bayern sind es gerade mal sechs Prozent. Malina Jankow, die ich heute ebenfalls kennenlerne, kann das bestätigen. Sie selbst hat bei der Tafel mit einem Ein-Euro-Job angefangen. Der bulgarische Abschluss als Diplom-Ökonomin wurde ihr in Deutschland nicht anerkannt. Ihre Töchter studieren auch und wollen Lehrerinnen werden. Ihr habe es bei der Tafel gefallen und dann sei sie geblieben, erzählt sie. Dort arbeitet sie seit fast 13 Jahren, leitet mittlerweile die Ausgabestelle und koordiniert die Mitarbeiter. Sie hat viel zu tun und ist trotzdem immer ansprechbar. Was es für ihre Arbeit braucht? Engagement und Organisationstalent. Auch die Vielsprachigkeit - Russisch, Bulgarisch, Deutsch - hilft ihr sicherlich, um auf die vielfältigen Bedürfnisse eingehen zu können. Für die Tafel wünscht sie sich, dass es zwischen den Ehrenamtlichen weniger Streit gibt. „Jeder guckt, was der andere nicht macht. Jeder denkt, er mache mehr als der andere.“ Für sie zählen das Engagement und die Zuverlässigkeit jedes Einzelnen.

Was wünscht sich die Tafel von der Kommune?

Von den Bürgern wünscht sie sich mehr Anerkennung für die Tafel, die fester Bestandteil Ber­naus ist. Tafel-Geschäftsführer Raske wünscht sich von der Kommune, dass Gemeindevertreter und Politiker häufiger das Gespräch mit den Menschen suchen. „Viele haben den Blick dafür verloren, was die Menschen wirklich beschäftigt, beklagt er. Allzu oft müsse das Gespräch durch die Tafel initiiert werden. Er möchte, dass die Tafel noch stärker ein Ort der Begegnung wird. Ansonsten kann sich Raske über die Zusammenarbeit mit der Stadt nicht beklagen. Da kennt er andere Beispiele:  Zum Beispiel, wenn ein Bürgermeister behauptet, dass seine Stadt so reich ist, dass sie keine Tafel brauche. Das sei in Bernau aber nicht der Fall.

Bernau unterstützt die Tafel bei der Suche nach einem neuen Grundstück

Tafeln und Kommunen müssen im ständigen Austausch bleiben, meint Raske. „Nichts ist schlimmer als eigenbrötlerisch nur die eigene Sicht zu verfolgen. Dabei ist es auch wichtig, dass man auch einen Input von der Gemeinde kriegt: Was ist überhaupt möglich? Was kann die Gemeinde auch leisten?“ Zurzeit unterstützt die Stadt Bernau die Tafel bei der Suche nach einem neuen Grundstück. Es muss gut erreichbar sein und genügend Platz bieten. Der Eigentümer hat der Tafel den Mietvertrag zum Ende des Jahres gekündigt. Für das rund 1.000 Quadratmeter große Gelände zahlt der Verein 30.000 Euro Miete im Jahr. Aber im Umland von Berlin steigen die Grundstückspreise massiv. Der Eigentümer erhofft sich wahrscheinlich höhere Einnahmen. Mit Blick auf die mietbaren Lagercontainer auf dem Nachbargrundstück vermutet Raske, dass diese in drei Monaten genauso viel Miete zahlen wie die Tafel im Verlauf eines Jahres.

Warum braucht es Angebote wie die Tafel?

Aber wie kann es überhaupt sein, dass wir im Überfluss leben und trotzdem Angebote wie die Tafel ihren Platz haben? Auf der einen Seite werde schlichtweg nicht nachhaltig produziert, meint Raske. Um das zu ändern, müssten diejenigen, die es sich leisten können, bewusster konsumieren. Als Beispiel nennt Raske die vielfach kritisierten Milchpreise, bei denen sich das Geschäft für viele Bauern schlichtweg nicht mehr lohnt. Auf der anderen Seite gibt es einen Niedriglohnsektor, der im Sinne der Vollbeschäftigung ausgebaut worden sei. Deutschland lag laut dem statistischen Amt der Europäischen Union mit 22,5 Prozent der Arbeitnehmer mit Niedriglöhnen auf den vordersten Plätzen. Als Niedriglohnempfänger gilt, wer weniger als zwei Drittel des Medianverdienstes des jeweiligen Landes verdient. Zwar stammen die letzten Vergleichszahlen aus dem Jahr 2014, aber zumindest für Deutschland hat sich seitdem wenig geändert.

Malina Jankow Die Tafel Bernau
Malina Jankow ist die Leiterin der Ausgabestelle

Krisenzeiten machen sichtbar, wie verwundbar die Gesellschaft ist

Für Malina Jankow, die Leiterin der Ausgabestelle, wird insbesondere in Krisenzeiten sichtbar, wie verwundbar die Gesellschaft wirklich ist. Das Angebot der Tafel könnte einmal für mehr Menschen relevant sein als es ihnen lieb ist, glaubt sie. Allein zwischen 2018 und 2019 stieg die Zahl der Bedürftigen um 10 Prozent. Auch durch die Folgen der Coronakrise könnte sich die Situation weiter verschärfen. Damit dies nicht passiert, fordern die Tafeln seit Jahren eine sozial-ökologische Wende. Nachvollziehbar für jeden, der schon mal eine Tafel besucht hat, denke ich.

Fotocredits: Silvan Heinze