Streit im Gemeinderat
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Beteiligungsformate

Nebenparlamente als Brandbeschleuniger?

Wenn Kreuze, Kopftücher oder Regenbogenfahnen das Rathaus spalten, sitzen Kommunen oft an der Frontlinie gesellschaftlicher Konflikte. Der neue KOMMUNAL-Podcast zeigt, woher die Wut kommt – und wie Bürgermeister die Kontrolle zurückgewinnen.

In der aktuellen Folge diskutieren Christian Erhardt-Maciejewski und Rebecca Piron in der ungewöhnlichsten Fraktionsgemeinschaft Deutschlands wieder überfraktionell. 3 Gäste mit drei sehr unterschiedlichen Blickwinkeln sind zu Gast, alle erleben Polarisierung täglich und gehen unterschiedlich damit um.

• Prof. Hans Vorländer, TU Dresden, einer der renommiertesten Demokratieforscher Deutschlands

• Martina Ferlin, Bürgermeisterin von Urbach (Baden-Württemberg)

• Michael Salomo, Oberbürgermeister von Heidenheim und Bundesvorsitzender des Netzwerks Junge Bürgermeister

Vorländer beschreibt die neue politische Realität klar: Emotionale Überhitzung, moralische Aufladung und Social-Media-Empörung haben den politischen Streit verändert. Bürger wollen nicht nur mitreden, sie wollen ihre Einzelinteressen direkt durchsetzen – und verlieren dabei das Gesamtbild aus den Augen. Das Ergebnis: sinkendes Vertrauen in demokratische Institutionen, steigender Druck auf die Kommunen.

Bürgerentscheide: Entscheidung oder Eskalation?

Bürgermeisterin Ferlin berichtet aus der Praxis: Drei Bürgerentscheide in Urbach – und keiner brachte Ruhe. Statt Befriedung folgte noch mehr Polarisierung. „Eine Gemeinde lässt sich nicht per Abstimmung heilen, sondern nur im Gespräch“, so Ferlin.

Ihre Analyse reicht tiefer: Unsicherheit, Angst vor Krieg, Sorge um Arbeitsplatz und Lebensstandard nähren den Wunsch, wenigstens vor der eigenen Haustür Kontrolle zu behalten. Genau dort entzünden sich lokale Konflikte – erst recht, wenn ein Baugebiet oder eine Straße betroffen ist.

„Wir produzieren zu viele Nebenparlamente“

OB Salomo hält dagegen, dass Bürgerbeteiligung oft falsch verstanden wird. Klimabeirat, Fahrradbeirat, Jugendbeirat – viele dieser Formate seien gut gemeint, führten aber zu einer Fragmentierung politischer Debatte.

Seine klare Botschaft: „Repräsentative Demokratie ist kein Wunschkonzert.“ Bürgerbeteiligung müsse Projekte verbessern, nicht blockieren. Und wer Einfluss wolle, müsse bereit sein, Verantwortung zu tragen – nicht nur Unterschriften zu sammeln.

Social Media als Brandbeschleuniger

Vorländer warnt vor einer politischen Kultur, die ständig in Empörung kippt. Medien und Politik tragen ihren Teil dazu bei. Die Folge sei ein Stil, der polarisiert und Kommunalpolitikern das Leben schwer macht – bis hin zu physischer Gewalt.

Repräsentative Strukturen geraten unter Druck, gleichzeitig sinkt die Bereitschaft, langfristig Verantwortung zu übernehmen. Entscheidungen kosten Zeit, Nerven und Kompromisse – und genau dazu sind immer weniger Menschen bereit.

Mehr Beteiligung – aber die richtigen

Ferlin kritisiert offen die „lautstarken Minderheiten“, die kommunale Bürgerbeteiligung zunehmend dominieren. Es kämen fast immer dieselben: Rentner, Lehrer, Beamte. komplette Gruppen – junge Eltern, Alleinerziehende, Menschen mit Migrationshintergrund – blieben fern.

Ihr Gegenrezept:

• repräsentative Befragungen

• Jugend-Formate wie „Speeddating mit dem Gemeinderat“

• „Grill & Chill“ mit dem Bürgermeisteramt

• bewusste Einbindung lokaler Multiplikatoren wie Vereinsvorsitzende

Zufallsbürger – Chance oder Illusion?

Salomo kann sich Zufallsbürger bei großen Projekten vorstellen – aber nur, wenn klar ist: Beteiligung heißt verbessern, nicht verhindern. Ferlin wiederum warnt davor, Zufallsbürger für repräsentativ zu halten. Auch sie seien am Ende freiwillig – und damit oft ein ähnlicher Ausschnitt wie bisher.

Politik wieder erlebbar machen

Am Ende kristallisiert sich ein gemeinsamer Punkt heraus: Kommunen brauchen Orte des echten Gesprächs. Nicht die fünfte digitale Plattform, sondern Räume, in denen Bürgermeister Führung zeigen, Entscheidungen erklären und Bürger lernen, dass jede Option ihren Preis hat.

Vorländer sagt klar: „Wir brauchen besseren Streit, nicht weniger Streit.“ Und die Kommunen sind der Ort, an dem sich diese neue Streitkultur am ehesten wiederbeleben lässt – vorausgesetzt, Politik bleibt mutig, offen und klar in der Linie.

Den Podcast finden Sie in allen üblichen Podcast-Catchern wie Apple-Podcast, Spotifiy oder Deezer und jetzt auch auf unserem Youtube-Kanal. 

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