
Unterwegs mit einem Rollstuhlfahrer
Wer Wispeler beobachtet, wie er entspannt und oft fröhlich mit Menschen redet, mag sich nur schwer vorstellen, dass der gebürtige Braker auch andere Saiten aufziehen kann. Denn wenn es sein muss, ist Reiner Wispeler ein Kämpfer – und das nicht nur im Umgang mit seiner Krankheit, sondern auch als Interessenvertreter für Behinderte. Viele Jahre war er Sprecher des Senioren- und Behindertenbeirates der Stadt Brake und zugleich seit 2009 stellvertretender Vorsitzender des Kreisbehindertenbeirates Wesermarsch. Im Februar 2014 übernahm Wispeler den Vorsitz des Kreisbehindertenbeirates. Das schließt unter anderem die Mitarbeit in Ausschüssen des Kreistages und die Teilnahme an Sitzungen von Behindertenverbänden ein. Und es bedeutet hohe Investitionen in Zeit, Kraft und Energie.
„Ich fülle dieses Ehrenamt trotzdem gerne aus“, bekennt Wispeler. Denn es lasse sich sehr wohl so manches bewegen und das Umfeld positiver gestalten.
Das persönliche Umfeld Reiner Wispelers ist eine Stadt mit ungefähr 15.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Und weil Barrierefreiheit im öffentlichen Raum ein Dauerbrenner-Thema in den Kommunen ist, hat KOMMUNAL unter diesem Gesichtspunkt eine aufschlussreiche „Bereisung“ der Braker Innenstadt vorgenommen.
Es hätte schlimmer kommen können. So lassen sich die Ergebnisse dieser „Bereisung“ zusammenfassen. Neben Reiner Wispeler war auch Bürgermeister Michael Kurz mit KOMMUNAL unterwegs. Der Sozialdemokrat ist seit Herbst Bürgermeister der Kreisstadt, war zuvor Leiter der Wasserschutzpolizei in Stade.
Im Mittelpunkt stand die Frage, wie es im Kernbereich der City um die bauliche Barrierefreiheit bestellt ist und mit welchen Hürden Menschen im Rollstuhl und E-Scooter zu kämpfen haben.
Andere Behinderungen wie zum Beispiel Einschränkungen beim Sehen oder Hören wurden nicht berücksichtigt. Wispeler: „Wir können also nur einen kleinen Ausschnitt wiedergeben, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.“ Was die eine Behinderten-Gruppe stört, mag der anderen eher gleichgültig sein. Und dass diese Ausgangssituation Behindertenpolitik in der Kommune auch für die Politikerinnen und Politiker nicht einfacher macht, liegt auf der Hand.
Es sind nicht nur in Brake vor allem die Altbauten in der Fußgängerzone, die Menschen mit Mobilitätseinschränkungen Zugangsprobleme bereiten. Denn bei Neubauten oder Umwidmungen von Gebäuden greifen eindeutige baurechtliche Bestimmungen zur Barrierefreiheit – bei Altbauten jedoch nicht.
Altbauten müssen nicht barrierefrei sein. Sie können Menschen, die mobilitätseingeschränkt sind, ausgrenzen, ohne dass sich dagegen wirkungsvoll vorgehen ließe „Hier können wir im Grunde genommen nur immer wieder an die Eigentümer appellieren“, stellt Bürgermeister Kurz fest. „Und das tun wir selbstverständlich auch.“ Wenn die Eigentümer außerhalb wohnen und ihre Immobilie in Brake womöglich in erster Linie als Anlageobjekt betrachten, ist die Durchschlagskraft solcher Appelle verständlicherweise deutlich begrenzter.
Immerhin: Häufig fallen die Appelle der Stadt-Spitze und des städtischen Senioren- und Behindertenbeirates dann doch auf fruchtbaren Boden, konstatiert Reiner Wispeler. Das ist wohl der Vorteil einer kleinen Stadt, in der zwar nicht jeder jeden kennt, aber doch viele viele – und in der sich eine kommunale Verantwortungsgemeinschaft aus Bürgern und Politik, Verwaltung und Vereinen nach dem Motto „Gemeinsam wirken!“ womöglich besser entfalten kann als in großen Städten.
In der Innenstadt gibt es aus Wispelers Sicht einige Positiv-Beispiele, bei denen Geschäftsleute ihren Gebäuden einen barrierefreien Zugang verpasst haben – und das freiwillig. Vorbildcharakter hätten zum Beispiel ein örtlicher Bäcker und eine Bankfiliale. Sie sorgten für feste und noch dazu optisch ansprechende Rampen-Lösungen, die tatsächlich praxistauglich sind.
Wie sinnvoll der Dialog mit Behinderten und ihren Interessenvertretungen ist, bevor die Handwerker beauftragt werden, zeigt sich ausgerechnet beim Ladenlokal der Selam-Lebenshilfe, die Menschen mit geistiger Behinderung fördert. Das sei nämlich nur auf den ersten Blick barrierefrei, moniert Reiner Wispeler. „Gut gemeint ist manchmal schlecht gemacht“, kommentiert er.
Michael Kurz nimmt dieses Negativ-Beispiel zum Anlass, um für eine enge Zusammenarbeit mit den Senioren- und Behindertenbeiräten zu plädieren. Ein solches Gremium ist auch in Brake aktiv. Der Haken: Es muss immer Leute finden, die sich zu einer Mitarbeit bereit erklären und dann möglichst langfristig bei der Stange bleiben. Und das ist insbesondere bei behinderten Menschen zwangsläufig nicht immer einfach.
„Der tiefe Griff in die Geldschatulle ist bei barrierefreien Maßnahmen nicht unbedingt erforderlich“, unterstreicht Reiner Wispeler. Oft könnten schon kleine Lösungen wie etwa eine transportable Rampe hilfreich sein, merkt er an. Die wird dann einfach vor die Eingangstür eines Geschäftes oder Lokals geschoben und macht das Stufensteigen überflüssig.
Nach der Einschätzung Wispelers sind die Geschäftsleute in der Innenstadt - Insgesamt gesehen - für die Problematik „durchaus offen und aufgeschlossen“. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, denn beim Thema „Barrierefreiheit“ sind der mögliche Einfluss und der Spielraum der Stadt äußerst begrenzt – so zumindest die Perspektive des Bürgermeisters.
Die Kassen sind leer: Im Ergebnishaushalt stehen den Erträgen von 20.428.900 Euro Aufwendungen in Höhe von 21.468.500 Euro gegenüber. Damit schließt der Ergebnishaushalt als Spiegel der jährlichen Einnahmen und Ausgaben mit einem Defizit von 1.039.600 Euro ab.
Bürgermeister Kurz hat die Brakerinnen und Braker bereits auf Sparmaßnahmen eingeschworen: „Wir müssen dringend handeln, um nicht immer weiter in die Verschuldung zu gelangen. Dazu ist es erforderlich, ein paar Jahre unsere teilweise hohen Standards in einzelnen Bereichen zu reduzieren.“
Vor diesem Hintergrund dämpft Michael Kurz bei der „Bereisung“ unter anderem die Hoffnungen auf eine weitere öffentliche Toilette in der Innenstadt, die einen behindertengerechten Zugang hat. So bleibt die Toilette an der Kaje wohl bis auf weiteres die einzige öffentliche weit und breit.
Ungefähr 750 Meter entfernt, am Bahnhof, hatte es eine Weile eine öffentliche Toilette gegeben. Die wurde mittlerweile demontiert. Diese moderne Toilettenanlage war im Laufe ihres „Lebens“ jedoch weitaus länger geschlossen als geöffnet gewesen. Denn für ihren Unterhalt hatte die Stadt Brake pro Jahr satte 18.000 Euro bezahlen müssen. Die Benutzungsgebühr in Höhe von 30 Cent hatte gerade einmal 550 Euro jährlich in die städtische Kasse gespült.
Die Aktion „Nette Toilette“, bei der Geschäftsleute und Gastronomen ihre Toiletten Nicht-Kunden überlassen und für die Reinigung einen regelmäßigen Obolus der Stadt erhalten, ist in Brake bekannt und wird aus dem Rathaus heraus unterstützt. Doch zu einer wirklichen Problemlösung kann sie mangels Masse kaum beitragen: Es bestehen einfach zu wenige geeigneten Läden in der City. Die ist von zahlreichen Leerständen geplagt.
Dass im Stadtkern von Brake kein Lebensmittelhändler mehr angesiedelt ist, stellt ebenfalls eine Barriere für Reiner Wispeler und andere behinderte oder in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen dar. Wispeler erläutert: „Durch die notwendig werdenden Fahrten zu den Händlern auf der so genannten Grünen Wiese vergrößert sich die Wegstrecke. Und die Zahl der Hürden und Hindernisse erhöht sich.“
Zwischenruf des Bürgermeisters: „Wir brauchen bei der Barrierefreiheit kreative Ideen und praktikable Lösungen, die erschwinglich sind.“ Zu diesem kreativen Ansatz gehört dann auch die ständige Suche nach neuen Finanzierungsquellen für barrierefreie Maßnahmen.
Besser wäre nach Auffassung des Bürgermeisters jedoch ein anderer Weg: „Wie den meisten anderen Kommunen in Deutschland fehlt auch der Stadt Brake das Geld für dringend erforderliche Investitionen in den Bereichen Schulen, Straßenbau und städtische Liegenschaften. Über den Niedersächsischen Städtetag, den Städte- und Gemeindebund sowie die übrigen Vertretungen kommunaler Interessen wird die Stadt Brake weiter darauf drängen, dass die finanzielle Ausstattung der Kommunen schnellstmöglich verbessert wird, um die Investitionsrückstände zu beseitigen und Neu-Investitionen für neue Aufgaben wie zum Beispiel Inklusion und Ganztagsschulen leisten zu können.“ Aus eigener Kraft sei das für die Stadt Brake nicht leistbar, so Kurz.
Erfolgreich war die Fahndung nach Finanzspritzen beim Fischerhaus an der Mitteldeichstraße, in dem kulturelle Veranstaltungen stattfinden, und im Haus Borgstede & Becker des Schifffahrtsmuseums. Im Museum wurde im Herbst 2012 ein 140.000 Euro teurer behindertengerechter Fahrstuhl seiner Bestimmung übergeben – finanziert aus Mitteln der EU, der Stadt und aus einem privaten Nachlass.
Und das Fischerhaus erhielt im Januar 2015 einen Treppenlift, damit auch Menschen mit Mobilitätseinschränkungen die 18 steilen Stufen überwinden können. Die 14.350 Euro für diesen Treppenlift wurden im Wesentlichen von einer Stiftung aufgebracht. Reiner Wispeler freut sich: „Kultur darf niemanden ausgrenzen. Deshalb sind die beiden Maßnahmen gelebte Inklusion.“
Und nicht nur Behinderte profitieren von diesen und ähnlichen Schritten, sondern ebenfalls alte Menschen oder Personen, die mit Kinderwagen unterwegs seien.
Die in Brake erreichten Fortschritte in Sachen „Barrierefreiheit“ bewertet Reiner Wispeler alles in allem positiv.
„Notstandsgebiet“ sei die Stadt jedoch bei der Beförderung von Behinderten per Taxi oder Mietwagen. Nach Wispelers Auffassung spitzt sich hier die Situation zu. Geeignete Fahrzeuge stehen kaum noch zur Verfügung.
Die Stadt Brake sei allerdings am Ball, entgegnet Bürgermeister Kurz: „Wir arbeiten zurzeit unter Hochdruck an einer Lösung. Ich bin zuversichtlich, dass es diese bald geben wird.“
Die von Kurz angesprochene Lösung soll mehrere benachbarte Kommunen umfassen. Die Wesermarsch ist geprägt von kleinen Städten und Gemeinden: Nordenham ist mit 27.300 Menschen die einwohnerstärkste und Ovelgönne mit 5.400 Personen die kleinste. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, dass Kommunen bei Themen wie dem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) ihre Kräfte bündeln.
Die ÖPNV-Situation in ländlichen Gebieten sei ohnehin „ein Trauerspiel“, von der Behinderten-Beförderung in Taxen oder Mietwagen abgesehen. So äußert sich Reiner Wispeler. Ein Dilemma: Oft ist es der Schülerverkehr, der den ÖPNV trägt. Aber mittel- oder langfristig nehmen vielerorts die Schülerzahlen ab – so auch in Brake und im Landkreis Wesermarsch.
Die Mobilität braucht also neue und frische Ideen. Zwei Varianten wären Bürgerbusse, die das vorhandene Linienangebot um für das örtliche Verkehrsunternehmen nicht mehr rentable Strecken erweitern und von ehrenamtlichen Fahrern gesteuert werden, oder Rufbusse, Anruf-Sammeltaxen und andere bedarfsorientierte oder flexible Bedienformen, die den Linienverkehr außerhalb der Hauptverkehrszeiten ergänzen oder die Distanz zwischen Haustür und Haltestelle überbrücken.
Reiner Wispeler würde sich ein viel gründlicheres Nachdenken über solche und weitere ÖPNV-Innovationen erhoffen. Und noch wünschenswerter fände er es, wenn bestehende Beförderungsmodelle nicht durch Entscheidungen der Verkehrsbetriebe geschwächt würden. Das ist nach seiner Überzeugung bei dem Beschluss der Fall, wonach seit Jahresbeginn keine E-Scooter mehr in Bussen mitgenommen werden dürfen.
Reiner Wispeler ist einer der persönlich Betroffenen. Seitdem ist für ihn zum Beispiel die Fahrt in die nächste Großstadt Oldenburg ein fast unüberwindliches Hindernis. „So schön Brake auch ist“, schimpft er, „möchte ich doch nicht an diese Stadt gefesselt bleiben.“