Einsamkeitslotse Sylvio Böhm
Der Einsamkeitslotse Sylvio Böhm ist für eine Erfurter Wohnungsbaugenossenschaft im Einsatz.
© WBG Einheit Erfurt

Beispiele

Gegen die Einsamkeit - wenn Kommunen Nähe schaffen

Ein Einsamkeitslotse in Erfurt begleitet Menschen in schweren Lebenslagen, ein Einkaufsbus in Zeitlarn bringt Nachbarn zusammen – und ein Jugendpfleger sorgt dafür, dass Jugendliche Anschluss finden.

Sylvio Böhm spricht langsam, bedächtig, mit einem warmen Ton. Seine Stimme klingt geduldig und herzlich – der thüringische Dialekt gibt dem Ganzen eine besondere Wärme. „Oh du meine Güte, das tut mir leid“, sagt er. Der Mann am anderen Ende der Leitung hat vor wenigen Tagen seine Frau verloren. Nach ein paar Minuten verabschiedet Böhm sich freundlich: „Gut, ich müsste jetzt das Gespräch leider beenden. Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich gern wieder an.“ Es ging um eine Sterbeurkunde, die der Mann braucht, um die Wohnung auf ihn zu überschreiben.

„Ich bin da, um Einsamkeit zu bekämpfen“, sagt Böhm. Er ist vermutlich der einzige Einsamkeitslotse einer Wohnungsgenossenschaft in Deutschland. Sein Einsatzgebiet: Altbauwohnungen und Plattenbaugebiete der WBG Einheit in Erfurt. Böhm vermittelt Hilfsdienste, beantragt Pflegegrade, unterstützt psychisch Erkrankte, hilft bei Mieterkonflikten oder Fällen von Verwahrlosung. „Ich möchte niemanden verurteilen“, sagt er. „Ich komme zu Menschen, bei denen sich Müll bis zur Decke stapelt – da muss man helfen, nicht richten.“

Wenn die Wohnung zum Käfig wird - Einsamkeit bei Älteren

Einsamkeit hat viele Gesichter. Oft bedeutet sie, „dass niemand mehr greifbar ist“. Besonders betroffen sind Hochbetagte. „Viele über 90 leben allein. Kinder und Freunde sind verstorben, die Wohnung wird zum Käfig“, erzählt Böhm. Im Osten Deutschlands sei Einsamkeit stärker ausgeprägt, zeigt er sich überzeugt. „Nach der Wende sind Familien auseinandergerissen worden. Früher war das Familienleben intensiver, heute ist viel Grundtraurigkeit geblieben.“ Doch auch junge Menschen seien betroffen. „Nicht wenige flüchten sich in den Computer, haben nur noch imaginäre Freunde“, beobachtet Böhm.

Einsamkeitslotse Sylvio Böhm
Einsamkeitslotse Sylvio Böhm betreut Mitglieder der Wohnungsbaugenossenschaft Einheit in Erfurt

Einsamkeit kann auch zur Gefahr für die Demokratie werden. Untersuchungen zeigen, dass einsame Menschen tendenziell weniger Vertrauen in politische Institutionen haben, sich weniger für Politik interessieren und auch seltener motiviert sind, sich politisch zu engagieren. Kommunen können entscheidend dazu beitragen, Einsamkeit zu lindern. Sie sind die Orte, an denen Nähe und Zusammenhalt entstehen – oder verloren gehen. Städte und Gemeinden können Räume schaffen, in denen soziale Kontakte wachsen: Begegnungszentren, Nachbarschaftscafés, Besuchsdienste, generationenübergreifende Projekte – oder über Menschen wie Sylvio Böhm, die zuhören und Hilfe koordinieren. 

Einkaufsbus bringt in Zeitlarn Menschen zusammen

Ortswechsel, Gemeinde Zeitlarn im Landkreis Regensburg. Vor dem Rathaus warten zwei ältere Damen. Die beiden Frauen – eine kommt mit Rollator - kennen sich nicht, sie kommen aber sofort ins Gespräch. Es ist Donnerstag. Um neun Uhr rollt ein kleiner Bus an – schon gut gefüllt. Er hält an mehreren Haltestellen, bevor er die Fahrgäste zum Supermarkt bringt. Im Bus wird gelacht, geplaudert – viele fahren regelmäßig mit und treffen sich inzwischen sogar privat.

Einkaufbus Zeitlarn
Donnerstags geht es mit dem Einkaufsbus gemeinsam zum Rewe-Markt in Zeitlarn.

„Wir sind statistisch gesehen eine der ältesten Gemeinden im Landkreis“, berichtet Bürgermeisterin Andrea Dobsch. „Es gibt zwar einen Discounter bei uns im Ort, für viele war der Weg zum anderen Supermarkt aber zu weit – so entstand die Idee des Einkaufsbusses. Gemeinsam mit dem Rewe-Marktchef hat sie das Konzept entwickelt. Viele nutzen den kostenlosen Fahrservice, obwohl sie noch Auto fahren könnten. „Sie fahren mit, weil sie Gesellschaft suchen. Es wird geratscht, gelacht – das ist wertvoll.“ Supermarktinhaber Sven Vogel bezahlt die Fahrten. „Es geht mir nicht um Umsatz“, sagt er. „Der Einkaufsbus bringt Zusammenhalt – Menschen aus allen Ortsteilen lernen sich darüber kennen.“ 

Ideen dürfen nicht an Formularen scheitern

Gewundert hat sich die Bürgermeisterin allerdings darüber, was es schon beim Probebetrieb zu berücksichtigen gab. „Wir mussten so viele Punkte mit Behörden abklären, als würden wir einen Linienverkehr eröffnen.“  Nun geht es darum, das Projekt nach dem Probebetrieb fortzusetzen. „Solche Ideen dürfen nicht an Formularen scheitern“, sagt sie. Dobsch geht das Thema Einsamkeit sehr bewusst an – mit Herz, Pragmatismus und persönlichem Einsatz. „Manchmal reicht es nicht, eine Einladung zu verschicken – man muss die Leute anrufen, hingehen oder sie einfach abholen.“  Geburtstagsbesuche, persönliche Gespräche und ein starkes Netzwerk aus Nachbarschaftshilfe und Ehrenamt sollen sicherstellen, dass niemand in der Gemeinde allein bleibt. 

Bürgermeisterin von Zeitlarn, Andrea Dobsch

Manchmal reicht es nicht, eine Einladung zu verschicken – man muss die Leute anrufen, hingehen oder sie einfach abholen.“

Andrea Dobsch, Bürgermeisterin von Zeitlarn

Einsamkeit betrifft nicht nur Ältere. Der Jugendpfleger der Gemeinde Zeitlarn, Florian Hirschauer, erlebt sie auch bei den Jüngeren. Er leitet den Jugendtreff „Area 51“ in Zeitlarn – einen offenen Raum für Begegnung. „Wir wollen Hürden so niedrig wie möglich halten“, sagt er. „Man kann ohne Anmeldung kommen, zehn Minuten bleiben oder den ganzen Abend. Wichtig ist, dass niemand bewertet wird.“ Viele Jugendliche, erzählt Hirschauer, seien unsicher oder schüchtern, manche stünden abseits von Vereinen und Gruppen. „Wir sehen junge Menschen, die sich schwertun, Anschluss zu finden. Manche haben Probleme zu Hause, andere ziehen sich einfach zurück – und dann wird Einsamkeit schnell zum Thema.“

Jugendliche fühlen sich oft einsam



Auch Social Media spiele eine große Rolle. „Der Druck ist enorm. Jugendliche vergleichen sich ständig mit den perfekten Bildern anderer. Wer da nicht mithalten kann, fühlt sich minderwertig – das macht krank.“ Darum setzt Hirschauer auf Nähe und Vertrauen. „Bei uns reden Jugendliche über alles – Schule, Beziehungen, Krieg, Zukunftsängste. Für viele ist der Treff der einzige Ort, an dem sie einfach sie selbst sein dürfen.“ Wenn sie rauskommen aus ihrem Zimmer zu Hause sei schon viel gewonnen.

Florian Hirschauer, Jugendpfleger in Zeitlarn

Bei uns reden Jugendliche über alles – Schule, Beziehungen, Krieg, Zukunftsängste."

Florian Hirschauer, Jugendpfleger in Zeitlarn

1. Plaudertresen Deutschlands in Kleinmachnow

Manchmal braucht es nur einen Tisch und Kaffee. Im brandenburgischen Kleinmachnow steht vor dem Rathaus der erste Plaudertresen Deutschlands: ein Stehtisch, ein Campingtisch, vier Stühle und eine Kanne Kaffee. Manfred Sander hatte die Idee. Er kennt die Belastung von Einsamkeit auch aus seiner Zeit bei der Telefonseelsorge. Inzwischen engagieren sich am Plaudertresen rund 15 Ehrenamtliche.

Plaudertresen
Am Plaudertresen in Kleinmachnow: Inzwischen engagieren sich rund 15 Ehrenamtliche.

„Wir kommen von keiner Partei, wir wollen nichts verkaufen – wir hören einfach zu“, sagt Sander. Die Gespräche entstehen spontan – manchmal kurz, manchmal über Stunden. Eine ältere Dame aus dem Seniorenheim kommt regelmäßig, aber auch Schüler, Berufstätige oder Familienväter bleiben stehen. Unterstützt wird Sander von Co-Projektleiter Sven Weißhaar. Ihm ist wichtig, Menschen ohne Zwang ins Gespräch zu bringen. „Einsamkeit sieht man den Menschen nicht an. Wir können sie nicht beseitigen, aber wir können sie für einen Moment leichter machen“, sagt er. Ein Aufsteller hilft, den Anfang zu finden. „Gibt es ein Thema, das Dich momentan besonders beschäftigt? Welches ist das und warum?“ steht auf einem Kärtchen – das „Plauderkarussell" auf dem Stehtisch erleichtert den Einstieg. 

Initiatoren wünschen sich Unterstützung der Kommunen

Wenn sich am Tresen neue Bekanntschaften ergeben, ist das für die beiden Kümmerer schon ein kleiner Sieg. Ihr Ziel ist es, dass Plaudertresen in vielen Städten entstehen, auf Marktplätzen, in Einkaufszentren und in der Nähe von Schulen – als Orte der Freundlichkeit und des Zuhörens. Dafür wünschen sie sich wenig Bürokratie und Unterstützung der Kommunen. „Einsamkeit ist kein Seniorenthema, sie betrifft uns alle“, sagt Weißhaar. „Und Begegnung ist immer möglich – wenn man sie fördert.“ 

Fotocredits: Einsamkeitslotse (2Bilder): WBG Einheit Erfurt Gruppe vor Einkaufsbus Gudrun Mallwitz Jugendpfleger Zeitlarn: Privat Plaudertresen: Gudrun Mallwitz