Gartenparty vor Corona
Ein Bild aus der Vor-Corona-Zeit: Die Bewohnerinnen und Bewohner des Wohnprojekts am Stadtrand von Bonn.
© Amaryllis eG

Zukunftsprojekte

Wohnen gegen die Einsamkeit

Corona macht viele Menschen einsam. In drei Häusern mit 50 Erwachsenen und 15 Kindern am Bonner Stadtrand aber helfen sich die Menschen gegenseitig. Wie die Bewohnerinnen und Bewohner in dem seit Jahren erprobten Mehrgenerationenprojekt Amaryllis eG die Zeit der Pandemie erleben und warum Kommunen Lebensformen wie diese unterstützen sollten.

Auf dem Dorf wohnen sie oft noch zusammen in einem Haus: Kinder, Eltern und Großeltern. Die etwa 65 Menschen, die in drei Häusern am Stadtrand von Bonn leben, sind bei weitem nicht alle miteinander verwandt. Sie alle verbindet aber mindestens zweierlei: der Wunsch nach sicherem Wohnraum und nach einem Miteinander.  KOMMUNAL wollte die Bewohner des Amaryllis-Wohnprojekts besuchen und von ihnen wissen: Hat sich die von ihnen gewählte Lebensform in der Corona-Zeit bewährt? Wie haben sie es geschafft, den Kontakt untereinander aufrecht zu erhalten, ohne sich womöglich gegenseitig mit dem Corona-Virus anzustecken? Wie lässt sich ein solidarisches Miteinander in einer selbstverwalteten Genossenschaft in Corona-Zeiten organisieren?

Corona verstärkt Bedürfnis nach mehr Gemeinschaft und Schutz

Zukunftsforscher gehen davon aus, dass nicht nur die steigenden Immobilienpreise und Mieten das Bedürfnis nach kleineren Wohnungen und gemeinschaftlichem Wohnen wachsen lassen. Die Menschen nach Corona werden sich nach mehr Gemeinschaft und Schutz sehnen, prognostiziert etwa der Vordenker Daniel Dettling. Steigende Corona-Infektionszahlen, der zweite Lockdown und die Kontaktbeschränkungen ließen einen Besuch im Wohnprojekt nicht zu. Kathleen Battke, langjährige Bewohnerin und derzeit im Vorstand der Genossenschaft, gab uns jedoch im Gespräch einen Einblick in den Alltag des Mehrgenerationenwohnens.  Die jüngste Bewohnerin ist ein Jahr alt, die älteste 86 Jahre alt.  

Kathleen Battke lässt keinen Zweifel daran, dass sie ihre Entscheidung für das genossenschaftlich organisierte Gemeinschaftswohnprojekt nie bereut hat.

Sicherlich ist es manchmal anstregend, aber es bleibt wunderbar."

Kathleen Battke über das Wohnen im Amaryllis-Haus

Eingezogen ist die heute 61-Jährige vor elf Jahren, kurz vor ihrem 50. Geburtstag. Im November 2006 hatte die ein gutes Jahr zuvor gegründete Amaryllis eG mit dem Bau der 33 Wohnungen begonnen. Die Genossenschaftsmitglieder hatten sich dafür entschieden, vieles selbst zu übernehmen; mit der Planung und Bauleitung beauftragten sie ein Stadtplanungs- und Architekturbüro. Gebaut wurde ökologisch nachhaltig und kostenbewusst. Sechs der Wohnungen werden aus öffentlichen Mitteln gefördert. Und es gab ein Mobilitätskonzept: Auf dem Gelände ist viel Platz zum Spielen für die Kinder, dafür entstanden weniger Parkplätze. Hier wohnt man nicht nur: Die Mieter sind gleichzeitig die Eigentümer. Sie alle haben Geld als Genossenschaftsanteile einbezahlt, als sie einzogen. Wer hier lebt, übernimmt Verantwortung, kümmert sich.

Bewohner engagieren sich in Arbeitsgruppen

Kathleen Battke

Was von den Bewohnern erwartet wird? „Wir sind eine selbstverwaltete Genossenschaft, dazu gehört auch Gremienarbeit in Vorstand und Aufsichtsrat“, berichtet Kathleen Battke. „Außerdem gilt es, den Alltag im Wohnprojekt selbst zu organisieren – von den Finanzen bis zum Garten, vom Fahrzeugpark bis zur Gemeinschaftsbildung“. Fast alle Bewohner engagieren sich in Arbeitsgruppen.Die erprobte Amaryllis-Frau, die derzeit dem vierköpfigen Vorstand angehört, hat vorher zehn Jahre in der AG Öffentlichkeitsarbeit mitgewirkt. Momentan, so erzählt sie,  prüft eine Gruppe, ob es Sinn macht, die Häuser mit einer Fotovoltaikanlage nachzurüsten, um die Klimabilanz zu verbessern.

Das solidarische Miteinander bringt nicht nur Pflichten mit, sondern auch viel Freude und Unterstützung, betont Kathleen Battke. Schon länger geplant war eine Hilfe-Liste, die dann mit der Corona-Pandemie eingeführt wurde: Die Bewohner wurden gefragt, wie sie andere in der Gemeinschaft unterstützen können und wollen. Beim Einkaufen oder Hausaufgabenmachen zum Beispiel.

 

Das Konzept bewährt sich in Corona-Zeiten ganz besonders. In der „AG hilfreich“, über die diese Hilfe-Liste koordiniert wird, wirken auch die beiden ältesten Bewohnerinnen an einem für die Gemeinschaft wichtigen Konzept mit: „Wir arbeiten  gemeinsam an einer Lösung von innen heraus, die auch in Situationen von Unterstützungs- und Pflegebedürftigkeit möglichst viel Individualität ermöglicht“, sagt Kathleen Battke. Im Wohnprojekt gibt es zwar eine starke Nachbarschaftshilfe, einen Pflegedienst kann diese aber nicht ersetzen.  

Versammlungen per Video, Aktionstage im Garten

Corona hat das Leben in den drei Häusern verändert. Dazu gehört ein laufend angepasstes Konzept mit Abstandhalten, Maske tragen, Stoßlüften in gemeinsam genutzten Räumen, Händewaschen, häufigere Türklinkenreinigung und die Desinfektion von gemeinsam genutzten Autos. Die Versammlungen finden seit Monaten überwiegend per Video statt, Absprachen im kleinen Kreis. „Auch wenn es eine anstrengende Zeit ist: Es ist auch eine große Experimentierfreude entstanden“, sagt Kathleen Battke. „Dabei geht natürlich einiges schief, doch vieles gelingt auch, und wir lernen gemeinsam.“ Zum Beispiel gibt es immer wieder Aktionstage draußen: Gemeinsam wird der Garten aufgeräumt,auf dem großen Grundstück kann der Abstand eingehalten werden. Lagerkoller? Den gab es bisher noch kaum. Rituale gehören im Wohnprojekt dazu: Amaryllis feierte das Lichterfest wie jedes Jahr am Tag der Grundsteinlegung, den 24. November, dieses Mal aber ganz anders. Überall auf dem Gelände brannten die von den Bewohnern aufgestellten Lichter. Auf einem vorab produzierten Video wurde der alljährliche Text zum Lichterfest vorgelesen, dazu wurden die Namen derjenigen genannt, die im vergangenen Jahr weggezogen, gestorben oder dazugekommen sind. Jeder konnte sich das Video zuhause anschauen oder es trafen sich dazu Bewohner aus zwei Haushalten.

Wortgeschenke willkommen steht  auf einem Schild vor dem Balkon



Inzwischen hat Kathleen Battke viele Menschen kommen gesehen. Nicht nur zufällig bekommt sie mit, wenn jemand Neues einzieht. Denn alle bestimmen mit, wer aufgenommen wird. „Wird eine Wohnung frei, fragt unsere AG Kontakt: Was passt in unseren Generationenmix? Für wie viele Menschen ist die freie Wohnung geeignet? Und: Stimmt die Chemie?“

Expertin für neue Wohnformen

Mittlerweile ist sie Expertin für neue Wohnformen. Sie arbeitet unter anderem in Köln für den Verein Neues Wohnen im Alter e.V. im Auftrag der Stadt Köln als Beratungs- und Informationsstelle zu neuen Wohnformen. Dabei unterstützt sie Projekte und neue Gruppen in Fragen von Kommunikation und Gemeinschaftsbildung, vernetzt Akteure und begleitet den Runden Tisch der Wohnprojekt in Köln. Außerdem hält sie Vorträge bei Kommunen im Umland oder bei Seniorenorganisationen. Im April startete Kathleen Battke eine erste Umfrage zu Corona. Sie bekam aus elf Wohnprojekten Rückläufe. „Vor allem in Wohnprojekten, wo der Zusammenhalt auf zufälligen Kontakten basiert, fühlen sich jetzt viele Menschen hilflos und von der Coronasituation überfordert“, fiel ihr auf. Bewährt habe es sich dagegen, soziale Strukturen aufzubauen und bewusst auf Gemeinschaftsbildung zu setzen. "Dies trägt dann auch in der Krise", sagt sie. Keinesfalls hätten sich Orte gemeinschaftlichen Wohnens als Corona-Hotspots erwiesen. Bislang ist auch bei Amaryllis niemand positiv auf Corona getestet worden. Viele aber haben sich aber vorsichtshalber freiwillig in Quarantäne begeben.

Kommunen können durch Wohnprojekte gewinnen

Was können Kommunen tun, um solche Wohnformen zu fördern? „Wir hatten stets eine gute Kooperation mit der Stadt Bonn“, sagt Kathleen Battke. „Grundstücke gibt es für Wohnprojektgruppen leider immer noch nicht günstiger.“ Inzwischen führen aber immer mehr Städte die Konzeptvergabe ein – Grundstücke werden dabei nicht mehr nur nach Höchstgebot vergeben, sondern es zählt auch der soziale Mehrwert, der geschaffen wird. „Kommunen können durch Wohnprojekte gewinnen“, unterstreicht Kathleen Battke. „Schließlich nehmen Menschen hier die Lösung für ihren Wohnbedarf selbst in die Hand, anstatt die Kommunen in Konsumhaltung zu beanspruchen.“ Und durch gemeinschaftliche Wohnprojekte entstünden lebendige Quartiere mit einer aktiven Nachbarschaft.