Wir müssen endlich wieder streiten, statt die moralische Keule zu schwingen, meint Christian Erhardt vor der Bundestagswahl
Wir müssen endlich wieder inhaltlich streiten, statt die moralische Keule zu schwingen, meint Christian Erhardt vor der Bundestagswahl 2021

Leitartikel

Bundestagswahl 2021: Rettet die Politik vor den Sofa-Moralisten

Wenn jeder meint, er hätte die Wahrheit für sich gepachtet, wird politische Diskussion unmöglich. „Strategisch eingesetzter Moralismus treibt die Spaltung der Politik und unserer Gesellschaft weiter voran,“ meint Christian Erhardt mit Blick auf die Bundestagswahlen.

Im Frühjahr sollte in den Kölner Stadtrat ein Antrag eingebracht werden, in dem es um Karnevalskostüme geht. Eine Jugendorganisation forderte, dass die Kostümierung etwa als „Indianer“ verboten werden soll. Auch Öl-Scheichs und Co sollten der Zensur zum Opfer fallen. Alles natürlich im Namen der Toleranz! Allein das sollte man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. „Korrekter Karneval“ heißt die Losung, nachdem zuvor schon eine Hamburger Kita das Indianerkostüm verboten hatte. Ähnlich habe ich es mal bei einem Straßenfest erlebt. Da sollte auf Alkohol verzichtet werden – was ich erst einmal in Ordnung finde. Die Begründung aber ging durch Mark und Bein. Dort hieß es in dem Schreiben der Organisatoren: „Aus Rücksicht auf die Muslime“. Genau das sagt leider viel über den neuen Moralismus als Ersatzreligion in Deutschland aus. Toleranz darf nicht heißen, die Intoleranz der anderen zu akzeptieren! Genau das aber passiert immer häufiger in politischen Debatten, nicht nur auf Bundes- und Landesebene. Immer häufiger werden Diskussionen moralisch aufgeladen. Anhand eines konkreten Themas wird die Welt in zwei Teile aufgeteilt. In „Gut und Böse“, in „Richtig und Falsch“ – wer auf der richtigen Seite steht, hat die Wahrheit automatisch gepachtet. Das ist durchaus praktisch, denn wer in Besitz der Wahrheit ist, braucht auch nicht mehr zu diskutieren. An die Stelle von Pluralismus tritt die Selektion.

Mit der Moralisten-Keule kann ich jede Diskussion ad absurdum führen, wenn das Primat des „Verzichts“ zu unserem Leitbild wird."

Christian Erhardt

"Muss das sein?" ist das ideologische Holzhammer-Instrument dieser Bundestagswahl 2021 und gegen alle Wahlprogramme

Sehr gut lässt sich das im Bundestagswahlkampf 2021 bei der Debatte um die Umweltpolitik beobachten.Die Forderung nach Verzicht ist im Mainstream angekommen. Die Frage: „Muss das sein?“ wird zum modernen Holzhammer der Sofa-Moralisten. Gewiss: Ich kann wunderbar mit einer Handvoll Reis überleben. Von vielen Dingen die wir tun, hängt unsere pure Existenz nicht wirklich ab. Und natürlich können wir rein theoretisch auch auf das Auto verzichten. Pferd und Wagen sind aber auch nicht die Alternative – so rein aus dem Tierschutzgedanken heraus. Aber Zynismus beiseite. „Diskursversagen durch Moralkonfusion“ trifft es bei der Debatte wohl eher. Das moralische Anliegen, unsere Umwelt zu erhalten ist so unstrittig, dass niemand dagegen spricht. Es geht aber auch nicht um das Ziel, sondern um den Weg dahin. Doch statt zu diskutieren, wie das Ziel am besten erreicht wird, machen wir die Umweltpolitik unnötig teuer und damit am Ende unattraktiv. Weil wir auf „Verbote statt Innovationen“ setzen. Dadurch werden viele Menschen abgeschreckt, es kommt zur Spaltung. Bei den Debatten ist es kein Wunder, dass sich Teile der Umweltbewegung immer weiter radikalisieren. Denn geht es erst mal um das große ideologische „Ganze“, dann wird aus der Diskussion im Gemeinderat um weniger Plastikmüll schnell eine Grundsatzdebatte über „wirtschaftliches Wachstum“, Kapitalismus an sich und natürlich „böses Unternehmertum mit seiner Gewinnorientierung“. Wir sollten stärker lernen, dass bei Herausforderungen oft auch „kleine Lösungen“ weiterhelfen, nicht alles ist strukturell und braucht staatlich bezahlte Aktivisten, die das Problem dann möglichst lange (und für sich selbst lukrativ) bekämpfen.

Zur Bundestagswahl 2021 befeuert die politischen Parteien die Spaltung der Gesellschaft noch

Strategisch eingesetzter Moralismus ist genau das, was die Spaltung unserer Gesellschaft weiter vorantreibt. Erst beginnt die Diskussion über den schädlichen Verbrennermotor. Dann diskutieren wir über die Umweltschädlichkeit des Elektrofahrzeugs (Stichwort: Seltene Erden). Also wird die Bahnfahrt zum Maß aller Dinge erhoben. Besonders spannend dort, wo einfach keine Bahn fährt. Aber auch die Bahn will angetrieben werden. Und so kann ich die Diskussion weiterführen und sagen: Die Fahrt zur 20 Kilometer entfernten Arbeit wäre auch mit dem Fahrrad möglich. Und warum eigentlich nicht gleich zu Fuß? Ich weiß, dass ich übertreibe. Es zeigt aber, wie ich mit der Moralisten-Keule jede aber auch wirklich jede Diskussion ad absurdum führen kann, wenn das Primat des „Verzichts“ zu unserem Leitbild wird.

Geht es erst mal um das große ideologische „Ganze“, dann wird aus der Diskussion im Gemeinderat um weniger Plastikmüll schnell eine Grundsatzdebatte über „wirtschaftliches Wachstum“, Kapitalismus an sich und natürlich „böses Unternehmertum mit seiner Gewinnorientierung“

KOMMUNAL-Chefredakteur Christian Erhardt

Alle wollen mir ein besseres Leben aufdrängen, aber das will ich gar nicht...

Das Grundproblem in diesem Bundestagswahlkampf 2021 ist aus meiner Sicht: Es gibt viel zu viele Leute, die es extrem gut meinen mit Menschen wie mir. Sie wollen mir endlich ein besseres Leben aufdrängen. Aber ganz ehrlich: Das will ich gar nicht! Und Millionen anderer Bürger auch nicht. Diese Menschen spüren aber die Verachtung dieser Mileus, wenn sie abends in ihrem Garten einfach nur ein leckeres Stück Fleisch grillen und dabei reden, „wie ihnen der Schnabel gewachsen ist“, ganz ohne „Genderstottern“.

Wollen wir die Spaltung der Gesellschaft reduzieren, müssen wir unsere Debatten vor den Besserwissern und Sofa-Moralisten retten. Wir müssen lernen wieder richtig zu streiten. Und zwar in der Sache. Wir brauchen keine Ersatzreligionen, wir brauchen Streit über den richtigen Weg. Gerade in diesem Bundestagswahlkampf erlebe ich in Debatten immer wieder eine enorme ideologische Enge. Sie ist aber nichts weiter als falsch verstandene Modernität. Weg damit!