Zwei Fische
Wo geht es lang?
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Systemdenker:

Was uns die Corona-Krise lehrt

11. Mai 2021
Wir wollen ein Problem lösen, und mit der vermeintlichen Lösung schaffen wir neue Probleme. Die Krisen werden nicht weniger, sondern mehr. Was wir ändern sollten, beschreibt Systemdenker Egon Zeimers im KOMMUNAL-Gastbeitrag. Er nutzt dafür eine Parabel von zwei jungen Fischen, die von einem älteren Fisch lernen können.

Schwimmen zwei junge Fische vor sich hin und treffen zufällig auf einen älteren Fisch. Der nickt ihnen zu und sagt. „Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?“ Die jungen Fische antworten nicht und schwimmen weiter. Nach einer Weile wirft der eine junge Fisch dem anderen einen irritierten Blick zu und fragt: „Was zum Teufel ist Wasser?“ So begann der US-amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace 2005 eine Rede vor College-Studenten.

Ist dies nicht eine herrliche Parabel für das Leben, das wir leben? Wir wissen nicht, worin wir uns bewegen, worin wir feststecken. Wir wissen nicht, was unsere Welt ausmacht. Uns fällt nicht auf, dass wir in Denkschleifen und Routinen hängen, in überkommenen Mustern entscheiden und handeln, in Mustern, die immer wieder zu denselben Problemen führen. Diese Probleme sind die Ausprägungen ein und derselben Krise, die in erster Linie eine Krise der Wahrnehmung ist.

Was wäre, wenn die jungen Fische wüssten, was Wasser ist? Was würden sie wahrnehmen? Welche Optionen hätten Sie? Sie verstehen jedoch die Frage erst gar nicht. Der ältere Fisch hingegen verfügt über tiefe Erkenntnisse, die er über viele Jahre gewonnen hat, und ganz gewiss ist nicht jede seiner Erfahrungen angenehm gewesen. Er weiß, was Wasser ist. Das Wasser, es steht für die Komplexität der Welt.

Wie nehmen wir unsere Welt wahr? Wir glauben, die Welt in voneinander unabhängige und eigenständige Teilbereiche auftrennen zu können, in Wissenschaftsgebiete, Fachdisziplinen, Ressorts, Organisationseinheiten, Parteien, in Kommunen, Länder, Kontinente. Dabei ist unsere Welt aber ein System von Teilsystemen, die miteinander verbunden sind und interagieren.

Egon Zeimers Systemdenker

Die Corona-Krise ist der beste Beweis dafür, dass wir nicht imstande sind, angemessen auf komplexe Phänomene zu reagieren."

Egon Zeimers, Systemdenker

Wenn wir aus der aktuellen Krise lernen wollen, dann dass wir die komplexen Entwicklungen einer Viruspandemie nicht auf mathematische Modellrechnungen und lineare Verbindungen von Ursache und Wirkung reduzieren dürfen. Dass wir nicht einfach mit simplen Wenn-dann-Regeln direkt und zielgenau in das Geschehen eingreifen können. Eine Pandemie können wir nur in ihrem sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Umfeld, nur im Kontext des menschlichen Verhaltens und des menschlichen Zusammenlebens wirklich verstehen. Nicht aber ausschließlich in Statistiken und Richtwerten.

Bei komplexen Phänomenen haben wir es mit Wirkung und Gegenwirkung, Rückkopplung, Zirkularität statt Linearität, Ambivalenzen, Zielkonflikte, Zeitverzögerungen, Gleichzeitigkeiten zu tun. Wir stellen uns jedoch einem Problem nach dem anderen, je nach vermuteter Dringlichkeit. Wir wollen ein Problem lösen, und mit der vermeintlichen Lösung schaffen wir neue Probleme. Wohin das führt, erleben wir seit Jahren, seit Jahrzehnten. Unsere Probleme werden nicht kleiner, sondern größer, die Krisen werden nicht weniger, sondern mehr.

Unser Ziel muss sein, mit Komplexität besser fertig zu werden, besser, als es uns mit unserer unvernetzten Sicht auf die Welt möglich ist. Sehr viel besser als mit dem traditionellen mechanistischen, linear-kausalen Denken, mit dem wir die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Systeme schwächen und die Ökosysteme in den Kollaps treiben.

Fortschritt nicht nur auf der materiellen Ebenen verorten

Die vielen ungelösten Probleme in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die zunehmenden Krisen und Umweltkatastrophen sind eindeutige Beweise: Es ist allerhöchste Zeit, dass wir Fortschritt nicht länger nur auf der materiellen und technokratischen Ebene verorten. Den großen Herausforderungen und Aufgaben des 21. Jahrhunderts werden wir nur dann wirklich gewachsen sein, wenn wir zu ungewöhnlichen Veränderungen, ja: zu Durchbrüchen fähig sind. Diese Durchbrüche müssen sowohl persönlicher als auch systemischer Art sein.

In Zeiten großer Krisen wird deutlich: Uns fehlt es an wahren Leadern. Wer in einer zutiefst unübersichtlichen, unsicheren und unberechenbaren Welt wirklich Orientierung geben will, der muss sich erst selbst in ihr zurecht finden. Ein wahrer Leader ist einer, der er-wachsen und gereift ist aus persönlichen und allgemeinen Krisen, der ganzheitlich, systemisch und tiefenökologisch denkt, der ein Verständnis für die Komplexität der Welt und des Menschen hat. Ein wahrer Leader ist der, der mutig hervortritt – nicht, weil er sich für wichtig hält und eigene Interessen verfolgt, sondern weil ihm das Gemeinwohl und der menschliche Fortschritt am Herzen liegen. Er setzt einerseits auf die Vielfalt an Wahrnehmungen, Erkenntnissen, Perspektiven, Lösungsansätzen und anderseits auf ein reflexives, kreatives und kooperatives Miteinander.

Ein wahrer Leader weiß, dass die Lösungen der großen Probleme eine radikale Erneuerung unserer Wahrnehmung, eine Wende in unserem Denken und ein Wandel unserer Werte erfordern. So ein Leader ist wohl der ältere Fisch.

Egon Zeimers, Jahrgang 1960, ist Systemdenker. Er arbeitet als Journalist, systemischer Berater und Mentor.

Fotocredits: Egon Zeimers/Privat