Macht ein Strategiewechsel in der Coronakrise Sinn? Ein Debattenbeitrag
Macht ein Strategiewechsel in der Coronakrise Sinn? Ein Debattenbeitrag

Shutdown in der Kritik

Coronakrise: Brauchen wir einen Strategiewechsel?

In der Coronakrise tritt die Bundesregierung bei der Lockerung der Maßnahmen weiter auf die Bremse. Wäre es nicht sinnvoller, bestimmte Risikozielgruppen gezielt zu isolieren, statt kaum durchsetzbare Maßnahmen für alle zu beschließen? Marco Trips, Präsident des Niedersächsischen Städte- und Gemeindebundes setzt sich mit der Frage und den Folgen im KOMMUNAL-Gastbeitrag auseinander.

Im Kern geht es bei den Maßnahmen darum, die Ansteckungsrate so hinauszuzögern, dass nicht der Fall eintritt, dass die Krankenhauskapazitäten für normale und schwere Verläufe überlastet sind. Dazu wurden die bekannten Schutzmaßnahmen und die Einschränkungen erlassen. Dies führt dazu, dass weniger Übertragungen stattfinden und dadurch auch insgesamt weniger Menschen in die Krankenhäuser müssen.

Nicht verhindert werden soll, dass sich die Menschen überhaupt anstecken. Dies kann letztlich auch nicht verhindert werden. Vielmehr wartete man nach erster Erkenntnis zunächst auf eine baldige Durchseuchung oder Herdenimmunität, hat mittlerweile aber festgestellt, dass dies in einem vernünftigen Zeitraum rechnerisch ohne Überlastung der Intensivmedizin nicht möglich ist. Also verzögert man so lange, bis es Medikamente oder einen Impfstoff gibt.

In der Coronakrise hat sich der Erkenntnisstand der Wissenschaft verändert 

Nun scheint es aber so zu sein, dass in den meisten Fällen milde Verläufe auftreten. Schwere Fälle treten nach diversen Medienberichten nur bei älteren, vorerkrankten, schwergewichtigen Menschen mit eingeschränktem Immunsystem auf. Es gibt allerdings auch ein paar Sonderfälle, die gibt es aber wahrscheinlich bei Grippe oder anderen Erkrankungen auch. Sie fallen bei der möglichen Überlastung der Intensivmedizin nicht ins Gewicht. Bis auf diese Sonderfälle kann man also eine Corona-Risikogruppe recht gut identifizieren. Nur diese Risikogruppe wird die Intensivmedizin überlasten, alle anderen nicht.

Macht es in der Coronakrise Sinn, wirklich alle Menschen zu „islolieren“? 

Mir stellt sich deshalb die Frage, warum der Staat zur Verhinderung der Überlastung alle Menschen isoliert und seine Wirtschaft zugrunde richtet, anstatt die Risikogruppe „aus dem System zu nehmen“. Am Anfang war es sicherlich richtig, umfassend, schnell und rigide zu reagieren, wenn man sich China und Italien vor Augen führt. Das stelle ich im Nachhinein nicht in Frage. Die Maßnahmen waren damals und bis jetzt richtig und verhältnismäßig. Nun ist aber wohl der Erkenntnisstand ein anderer. Wenn man eine klassische juristische Interessenabwägung zwischen

A) Alle isolieren, und die Wirtschaft geht zugrunde und

B) Die Risikogruppe isolieren, bestmöglich versorgen und unterhalten und die Wirtschaft und die Kultur mit vertretbaren Schutzmaßnahmen wieder anlaufen lassen, kann man wie folgt argumentieren:

Die Maßnahmen in der Coronakrise müssen vom Ziel her gedacht werden

Ziel: (Nur und ausschließlich) Verhinderung der Überlastung der Intensivmedizin

Maßnahme: A) oder B)

Die Maßnahme ist juristisch dann verhältnismäßig und rechtmäßig, wenn sie geeignet, erforderlich und angemessen ist.

1) Geeignet: Geeignet ist eine Maßnahme, wenn sie das Ziel mindestens fördert.

Nach meinen Erkenntnissen wären beide Maßnahmen geeignet, die Überlastung der Intensivmedizin zu verhindern. Bei A) wird dies dadurch verhindert, dass sich insgesamt wenig Menschen anstecken und somit auch wenig Menschen der Risikogruppe in den Intensivstationen landen. Bei B) wird dies dadurch verhindert, dass sich die Risikogruppen nicht oder nur sehr langsam anstecken können.

Beide Maßnahmen sind geeignet.

2) Erforderlich: Erforderlich ist eine Maßnahme, wenn es kein milderes Mittel gibt. Ein Mittel ist dann milder, wenn es einzelne oder die Allgemeinheit weniger beeinträchtigt.

Überlasten wir Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mit den Maßnahmen? 

Bei A) sind die Auswirkungen auf alle massiv. Die Wirtschaft und Gesellschaft ist in vielen Bereichen massivst eingeschränkt, wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr. Hierüber finden sich viele Medienberichte und Warnungen der Wirtschaftswissenschaften. Ich führe das nicht weiter aus. Auch die gesundheitlichen und psychologischen Auswirkungen durch Vereinsamungstendenzen, fehlenden Sport, Doppelbelastungen Homework + Homeschooling etc sind beträchtlich. Gastronomie und Tourismus sowie viele Kleinunternehmer sind in der Existenz bedroht. Durch fehlende Steuereinnahmen wird auch der Staat seine Leistungen massiv zurücknehmen müssen.

Wie wäre es, in der Coronakrise „nur noch“ Risikogruppen zu isolieren? 

Bei B) werden nur die Risikogruppen zu ihrem eigenen Schutz isoliert. Diese können staatlicherseits mit Essen, Medikamenten und allem anderen kostenfrei versorgt werden und noch ein kostenloses Netflix-Abo bekommen. Wie auch immer, man könnte diese zeitlich befristete Isolation so angenehm wie möglich gestalten. So könnten m.E. auch zeitlich begrenzte Spaziergänge mit Maske o.ä. möglich sein. Der finanzielle Aufwand hierfür wäre günstiger, als das komplette Herunterfahren unserer Volkswirtschaft. Es könnte sogar noch eine Social-Helping-Kampagne o.ä. davon gemacht werden. Jedenfalls wären die wirtschaftlichen Folgen geringer, die Einschränkungen für die Betroffenen kaum größer als jetzt. Auch ausreichend Masken sind mittlerweile verfügbar.

3) Die Maßnahme B) wäre im Übrigen auch angemessen, weil die Nachteile durch die befristeten Einschränkungen bei bestmöglicher Versorgung für die Betroffenen (Risikogruppe) in der Wertung gegenüber den Vorteilen für die Allgemeinheit (Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems, Verhinderung eines Absturzes der Wirtschaft und Existenzen von Gewerbetreibenden) weniger schwer wiegen.

Für mich schlägt mit den neuen Erkenntnissen hier die Verhältnismäßigkeit um. B) ist ein weniger beeinträchtigendes, milderes, aber genauso geeignetes Mittel als A). Somit stellt sich die Frage, ob die weitgehenden Maßnahmen unter A) noch verhältnismäßig sind, oder ob der Staat nicht Strategie B) verfolgen sollte.