Mitreden
Deutschland diskutiert - Woher kommt die Wut gegen Kommunalpolitiker?
Muss unsere Demokratie besser geschützt werden? Welche Rolle spielen Kommunalpolitiker für die Demokratie?
Drei Experten haben in den ARD Inforadios über die Situation und Lösungsansätze gesprochen.
Anita Kirsten von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Brandenburg fordert mehr Investitionen in Bildung und Sozialisierungsprojekte, die dazu beitragen, Hass und Unwissenheit in unserer Gesellschaft abzubauen.
Angriffe - körperlich wie mit Hassrede - macht es noch schwerer, Menschen für ein demokratisches Ehrenamt auf kommunaler Ebene zu motivieren, sagt der Politikwissenschaftler Andreas Blätte von der Uni Duisburg-Essen.
Christian Erhardt-Maciejewski hat die Sorge, dass die stille Mitte noch stiller wird. Deutschland laufe Gefahr, dass sich immer weniger Menschen an der Demokratie beteiligen und Ehrenämter übernehmen".
Wie die aktuelle Situation ist
Andreas Blätte:
"Unsere Gesellschaft ist nicht zerrissen von Gruppen, die wie D Züge ineinander rammen würden. DIe Demokratie steht bei den allermeisten Bürgern nicht zur Debatte."
Anita Kirsten:
Gerade die noch nicht aufgearbeitete Corona Pandemie spielt eine wichtige rolle. Das ganze Thema Sozialkompetenz, das miteinander reden hatte jahrelangen Stillstand. Das merken wir vor allem bei Jugendlichen, hier ist die Kriminalität deutlich gestiegen."
Christian Erhardt:
Wir haben diese Situation nicht erst seit die Ampel Koalition regiert. Das Phänomen lässt sich über die letzten 10 Jahren verfolgen. Erst gab es anonyme Pöbeleien in den sozialen Medien, dann wurde öffentlich in den sozialen Medien mit Klarnamen gepöbelt und dann wurde aus dem Sagbaren das Machbare - die Gewalt nahm zu.
Was das mit einer Gesellschaft macht und was sich verändert hat:
Anita Kirsten: "Wenn es einen großen Frust gibt, warum gibt es dann nicht mehr Menschen, die sich politisch engagieren? Der Frust ist offenbar sehr individuell und führt nicht dazu, sich zu engagieren. Das ist wie die 84 Millionen deutschen Fußballtrainer auf dem Sofa - meckern und es gefühlt besser können. Aber nicht selbst machen."
Andreas Blätte: "Es gibt Gruppen, die fühlen sich um ihre Zukunftschancen betrogen. Da brennen bei einigen die Sicherungen durch in einer Art, die wir bisher nicht kannten. Daher ist es nicht überraschend, dass wir eine Situation haben, in der es zu Eskalation kommen. Es kommen vielen Krisen zusammen."
Christian Erhardt: "Die sozialen Medien sind nicht die Einzigen Schuldigen - der Unterschied ist nur: Früher konnte ich in der Eckkneipe rumpöbeln, das haben 10 Menschen mitbekommen. Im Netz bekomme ich dafür Tausende "Gefällt mir Angaben". Und wenn 1000 Leute "Gefällt mir" sagen muss das ja wohl stimmen, fühlen sich dann viele bestätigt. Und dann meinen Sie, das machen zu müssen, was andere sagen oder denken."
Welche Auswirkungen Hass und Gewalt auf die Kommunalpolitik und die Gesellschaft haben:
Christian Erhardt: "Es gibt einige wenige, die nach Angriffen sagen, dass sie nicht mehr weiter machen. Mehr Sorgen mache ich mir aber um den Nachwuchs. An die senden wir das Signal, "du kannst dir deines Lebens nicht mehr sicher sein und deine Familie ist auch betroffen. Und das gepaart mit dem Wissen, wie viel Arbeit ein Ehrenamt macht führt dann dazu, dass - übrigens nicht nur in der Politik auch bei der Feuerwehr und in Sportvereinen - der Nachwuchs oft ein riesiges Problem ist."
Anita Kirsten: "Unsere Bewerberzahlen auch bei der Polizei gehen zurück. Die Bilder, die man von der Polizei sieht, sind Bilder von Verfehlungen und von martialischen Polizisten, die eine Demonstration schützen. Das Bild, das öffentlich in den Medien gezeichnet wird, ist ein schlechtes. Wir brauchen mehr Vorbilder, nicht nur schlechte Schlagzeilen".
Andreas Blätte: "Das Engagement geht insgesamt zurück. An Rückzug denken nur wenige Kommunalpolitiker, weil sie das aus Leidenschaft machen. Worauf wir schauen müssen ist aber, dass es bestimmte Gruppen gibt, die in der Kommunalpolitik faktisch nicht vorkommen. Viele schränken ihr Engagement ein, die Vielfalt in den repräsentativen Ämtern nimmt ab, gerade bei Frauen."
Zu wenig Frauen, weil zu viel Gewalt? Wer engagiert sich noch?
Christian Erhardt: "Nur 9 Prozent der Bürgemeisterposten in Deutschland werden von Frauen besetzt. Menschen zwischen 25 und 55 sind in den Gemeindräten völlig unterrepräsentiert, ebenso Migranten. Sehr junge Menschen unter 25 gibt es zwar noch viele, sie stammen aber fast alle aus dem gleichen akademischen Mileu. Das alles hat aber wenig mit der Gewaltwelle gegen Kommunalpolitiker zu tun sondern mit der Frage der Vereinbarkeit Beruf, Familie und Ehrenamt. In der Rush Hour des Lebens zwischen 25 und 55 gründen viele eine Familie, ziehen Kinder groß, wollen im Job aufsteigen. Da ist auch einfach weniger Zeit. Ab 55 nimmt die Zahl der Ehrenamtlichen dann wieder zu, dann sind die Kinder oft erwachsen, im Job fahren die Menschen oft zurück."
Antia Kirsten: "Auch der Polizeiberuf muss für Frauen attraktiv bleiben. Bei der Polizei bewerben sich immer weniger Frauen, das muss sich dringend ändern. Da muss ganz viel passieren um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Wir brauchen ganz dringend Frauen bei der Polizei"
Was muss passieren?
Anita Kirsten: "Bis vor wenigen Jahren waren die sozialen Medien ein rechtsfreier Raum. Die Polizei hatte oft nicht die Handbabe, einzugreifen. Ich kann noch immer nicht auf eine Taste drücken und mich bei der Polizei beschweren."
Andreas Blätte: "Politik lebt von Streitkultur. In den sozialen Medien ist das teilweise aufgrund der Filterblasen ausser Kraft gesetzt. Und das überträgt sich auch auf die reale Welt. Unsere Demokratie lebt vom bürgerschaftlichen Engagement, das geht nur, wenn alle mitmachen.
Christian Erhardt: "Wir laufen Gefahr, dass sich Menschen aus der Mitte der Gesellschaft nicht mehr trauen, ihre Meinung zu sagen. Eine Mehrheit der Deutschen ist der Meinung, es sei besser, seine politische Meinung nicht zu äussern. Da müssen wir aufpassen. Wenn die Mitte schweigt, werden die Ränder umso lauter hörbar".
Die Schlussrunde: Diese Sache müssen wir ab morgen anders machen"
Anita Kirsten: "Wir müssen verbal abrüsten. Eine sachliche Diskussion wie hier heute ist wichtig und trägt dazu bei"
Andreas Blätte: "Wir dürfen die Stärke der Demokratie nicht unterschätzen. Wir müssen Demokratie täglich neu leben"
Christian Erhardt: "Wir kommunizieren uns zu Tode, aber wir müssen endlich wieder lernen, miteinander zu kommunizieren. Wir müssen mehr miteinander reden und auch zuhören":
Die Sendung gibt es auch als Video zum Nachschauen - hier geht es zum Videomitschnitt:
Die politische Diskussion
Unabhängig von solchen Talkformaten läuft auch die politische Diskussion über Konsequenzen weiter. Bundesinnenminister Nany Faeser hat nach den Attacken auf Wahlhelfer und Politiker angekündigt, mehr Polizisten einzusetzen. Sie verspricht mehr sichtbare Polizeipräsenz. Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul, gibt aber zu bedenken, dass die Polizei nicht jeden Politiker beschützen könne. Die Diskussion hat die ARD-Tagesschau ebenfalls aufgegriffen. Auch dort kam KOMMUNAL-Chefredakteur Christian Erhardt zu Wort. Er begrüßte die Sondersitzung der Innenminister von Bund und Ländern zur zunehmenden Gewalt gegen Politiker kritisierte aber: "Wenn Frau Faeser aber gleichzeitig allein in diesem Jahr bei der Bundespolizei 500 Millionen Euro an Budget einspart, dann frage ich mich, wie sie denn tatsächlich die Kommunalpolitiker schützen will?" Gewalttäter müssten wissen, dass Taten verfolgt werden und am Ende eine Strafe folgt. Dafür brauche es Personal.
Hier finden Sie die Berichterstattung der Tagesschau.
Und auch im Westdeutschen Rundfunk wird das Thema breit diskutiert - was bringt mehr Polizeipräsenz, was würden Gesetzesverschärfungen bringen - Die Morgensendung von WDR 5 konfrontierte KOMMUNAL mit den Forderungen von NRW-Innenminister Reul - das ganze Interview finden Sie hier: