Roland Weber, Opferbeauftragter
Der Opferbeauftragter der Bundesregierung, Roland Weber, im KOMMUNAL-Interview.
© Melina Lebel

Opferbeauftragter

"Der Staat unterstützt Opfer von Attentaten"

Der Messeranschlag von Solingen, die Todesfahrten in Magdeburg und München, jetzt erneut Mannheim. Wie und wann der Staat den Opfern und Angehörigen mit konkreten Hilfen beistehen kann, erläutert der Opferbeauftragte der Bundesregierung, Roland Weber, im KOMMUNAL-Interview.

KOMMUNAL: Herr Weber, seit Anfang des Jahres sind Sie der Bundesopferbeauftragte.  Wie wichtig ist die zentrale Anlaufstelle für Opfer von extremistischen und terroristischen Anschlägen?

Roland Weber:  Die Anlaufstelle ist immens wichtig, wie zuletzt auch die Anschläge auf die Demonstration in München und auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg zeigten. Die Menschen brauchen in dieser furchtbaren Situation jemanden, an den sie sich wenden können. Die wichtigste Aufgabe des Bundesopferbeauftragten ist es, mit den derzeit 14 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Geschäftsstelle, Kontakte für Unterstützungsangebote zu vermitteln. Dabei geht es um psychologische, soziale und finanzielle Hilfen. Der Bundesopferbeauftragte koordiniert zudem die Zusammenarbeit der Behörden des Bundes und der Länder, die bei einem extremistischen oder terroristischen Anschlag mit der Betreuung der Opfer befasst sind.

Warum gibt es den Opferbeauftragten auf Bundesebene erst seit März 2017?

Dieses Amt wurde etwa drei Monate nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz geschaffen. Damals war ich als Landesopferbeauftragter von Berlin der einzige Landesopferbeauftragte in Deutschland. Ich kümmerte mich mehr oder weniger allein um die Geschädigten. Schon früh wurde deutlich: Einer allein schafft das nicht. Die damalige Bundesregierung hat dann den früheren Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, als Beauftragten für die Opfer und Hinterbliebenen des Anschlags auf dem Berliner Weihnachtsmarkt eingesetzt. Sein Abschlussbericht führte unter anderem dazu, dass diese Stelle institutionalisiert wurde. Die Länder verpflichteten sich damals parallel dazu, Landesopferbeauftragte zu berufen.

Nach dem Anschlag gab es viel Kritik am Umgang mit Opfern und Hinterbliebenen.

Das, was auch ich schon zuvor gefordert hatte, offenbarte sich mit dem terroristischen Anschlag in Berlin: Der Staat muss sich viel stärker um die Opfer und ihre Hinterbliebenen kümmern. Er muss proaktiv auf die Geschädigten zugehen und ihnen Hilfsangebote machen. Es reicht nicht, Informationsblättchen zu verteilen, die dann auch noch schwer verständlich sind. Die Menschen müssen auch langfristig unterstützt werden. So sind wir heute noch für einige Opfer von damals im Einsatz. Gleichzeitig engagieren wir uns für die Opfer der Anschläge in Halle, Landsberg, Hanau, Dresden, in einem ICE nahe Regensburg, in Duisburg, Mannheim, Solingen und Magdeburg. Und wir werden auch für die Betroffenen aus München da sein. Dort ermittelt die Bundesanwaltschaft.

Es reicht nicht, an

überlebende Opfer und

Angehörige Informations­blättchen zu verteilen.“

Ronald Weber, Opferbeauftragter der Bundesregierung

Was ist mit Mannheim? Dort scheint es kein politisches Motiv für die Todesfahrt zu geben.

Nach bisherigen Erkenntnissen scheint die Tat keinen extremistischen und terroristischen Hintergrund zu haben.

Was waren für Sie die Hauptlehren aus dem Umgang mit den Opfern vom Berliner Breitscheidplatz?

Es hat damals nicht nur an entsprechenden Gesetzen und Strukturen für den Opferschutz gefehlt, sondern manchmal auch an Empathie. Hinterbliebene berichteten, sie hätten nicht am Gedenkgottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin teilnehmen dürfen. Sie wurden abgewiesen mit dem Hinweis, es handele sich um eine Veranstaltung für die Politik. Heute ist das zum Glück anders:  Beim Gedenkgottesdienst nach den Ereignissen in Magdeburg wurden die Politiker über einen Seiteneingang hineingelassen und Geschädigte und Hinterbliebene betraten – wie es auch angemessen ist – die Kirche über das Hauptportal.

Wie gehen Sie vor?

Der Bundesopferbeauftragte und die Beauftragten in den Ländern stimmen sich regelmäßig eng ab. Bei Videokonferenzen, aber auch bei persönlichen Treffen. Opferschutz ist Ländersache. Der Bund ist nur zuständig bei terroristischen und extremistischen Anschlägen. Diese haben immer auch eine überregionale Bedeutung. Oft sind viele Bundesländer involviert, und auch das Ausland. Das heißt aber nicht, dass das Land dann nicht mehr zuständig ist. Im Gegenteil. Eine ganz wichtige Rolle spielen für uns zum Beispiel auch die Kommunen. Denn sie kennen die Hilfsstrukturen vor Ort am besten. Zu Magdeburg waren und sind wir zum Beispiel im intensiven Austausch mit Oberbürgermeisterin Simone Borris.

Was konkret kann die Kommune tun?

Ohne die Unterstützung der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wäre der Opferschutz viel schwerer umzusetzen. Die Behörden sind miteinander vernetzt und verfügen auf lokaler Ebene über persönliche Kontakte. Ich erlebe in Magdeburg – anders als damals in Berlin nach dem Anschlag auf den Breitscheidplatz – dass sich die ganzen Akteure untereinander sehr viel besser kennen. So konnten wir beispielsweise schon drei Tage nach dem Anschlag bei einem ersten runden Tisch die weitere Vorgehensweise besprechen. In Berlin brauchte es Wochen, bis ich nur die Kontaktdaten der Betroffenen hatte.

Wie läuft die Hilfe durch die Opferbeauftragten nach einem Attentat konkret ab?

Ich nehme das Beispiel Magdeburg: Dort haben wir die ersten Daten der Verletzten und Hinterbliebenen nach der Tat am Freitagabend schon am Sonntagnachmittag bekommen. Fünf Menschen waren getötet worden, ein sechster starb später an den Folgen der Todesfahrt. Hunderte wurden verletzt. Gemeinsam mit der Landesopferbeauftragten von Sachsen-Anhalt haben wir ein Schreiben verfasst. Die Briefe an die Hinterbliebenen und die uns bis dahin bekannten Verletzten wurden bereits am Montagmorgen durch Kurierdienste und landeseigene Fahrer überbracht. Um zu zeigen: Wir sind da, wir können Hilfsangebote unterbreiten und wir informieren Sie über alle Rechte, auch finanzieller Art. Nach und nach haben wir Kenntnis von über 1.000 Betroffenen erlangt, die alle ein persönliches Anschreiben erhalten haben. Darin haben wir auch die Telefonnummer mitgeteilt, unter der es psychosoziale Unterstützung gibt. Sie führt zum Zentrum für Trauma- und Konfliktmanagement in Köln. Hier haben sich innerhalb kürzester Zeit rund 200 Anrufende gemeldet.

Eine Mutter und ein Stiefvater des Neunjährigen, der getötet worden ist, kritisierten, sie fühlten sich von den Behörden im Stich gelassen. Sie seien tagelang nicht zu ihrem toten Kind gelassen worden. Was lief da falsch?

Das Ehepaar hatte beklagt, dass es außer unserem Schreiben nur privat Hilfe bekam. Ich habe mich mit der Kritik auseinandergesetzt und nicht nur mit den beiden gesprochen, sondern auch mit den entsprechenden Behörden. Es gab Missverständnisse, die glücklicherweise aufgeklärt werden konnten.

Wer hat Anspruch auf Hilfe?

Im Fall von extremistischen und terroristischen Taten können Betroffene – über die üblichen Ansprüche für Opfer von Gewalttaten hinaus – weitere finanzielle Unterstützung aus Bundesmitteln erhalten.  Der Staat stellt für diese Fälle jährlich Haushaltsmittel zur Verfügung. Diese Mittel sind freiwillige Leistungen des Staates und ein Akt der Solidarität mit den Betroffenen. Denn in solchen Fällen richtet sich die Straftat nicht nur gegen ein konkretes Individuum, sondern auch gegen den Staat selbst.  In Magdeburg war es nach bisheriger Einschätzung der Ermittlungsbehörden zwar kein terroristisch motivierter Anschlag. Trotzdem wollte der Staat den Betroffenen wegen der besonderen Dimension der Tat zur Seite stehen. Finanzielle Leistungen aus Bundesmitteln können das entsetzliche Leid nicht ungeschehen machen, das den Betroffenen zugefügt wurde. Aber sie verleihen staatlicher Solidarität und Anteilnahme Ausdruck. Der Bundestag hat daher 25 Millionen Euro an Opferhilfe für die Betroffenen in Magdeburg freigegeben.

Wer gilt als Opfer?

Als Betroffene umfassen wir Personen, die durch die Tat Angehörige verloren haben oder verletzt wurden. Es werden aber auch solche erfasst, die die Tat hautnah miterlebt haben und nun psychisch darunter leiden. Außerdem zählen dazu auch die Angehörigen von Verletzten und Ersthelfende.

Wie sehen die Hilfen aus?

Dabei geht es um Leistungen nach dem Sozialen Entschädigungsrecht, also zum Beispiel Unterstützungsleistungen für Haushaltshilfen und Heilbehandlungen, die Behandlung in einer Traumaambulanz, aber gegebenenfalls auch Erwerbsminderungs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten sowie Hinterbliebenenrenten. Daneben gibt es gegebenenfalls die genannten Härteleistungen aus Bundesmitteln. Manchmal hat auch das Bundesland oder die Stadt, in dem der Anschlag verübt wurde, einen eigenen Opferhilfefonds. Und wenn der Anschlag mit einem Fahrzeug begangen wurde, kommen die Verkehrsopferhilfe und die Kfz-Haftpflichtversicherer zusätzlich ins Spiel.

Was erwarten Sie von der neuen Bundesregierung?

Ich bin mit dem, was ich hier vorgefunden habe, mehr als zufrieden. Und ich weiß, wovon ich spreche, da ich ja von der Stunde null komme, bevor es den ersten Opferbeauftragten überhaupt gab. Was ich mir wünsche: dass der Opferschutz weiterhin so ernst genommen wird, wie in den vergangenen Jahren und wir noch weiter daran arbeiten, die Strukturen zu verbessern.