Staat gegen Rathaus
Warum Bürgermeister endlich echte Macht im Bundesrat brauchen
Es beginnt harmlos. Ein Bürger wird im Amtsblatt von Tübingen zum Geburtstag beglückwünscht. Jahrzehntelang Alltag. Dann: Anzeige. Datenschutzprüfung. Empörung. Und ein fassungsloser Boris Palmer, der öffentlich fragt, in welchem Land wir eigentlich gelandet sind.
Gratulieren verboten. Willkommen in Deutschland.
Was früher Bürgernähe war, gilt heute als Risiko. Man darf darüber lachen – sollte es aber nicht. Denn dieser Fall ist kein Ausrutscher. Er ist Symptom.
Wenn Datenschutz den gesunden Menschenverstand frisst
In immer mehr Rathäusern wird nicht mehr gefragt: „Was ist sinnvoll?“
Sondern nur noch: „Was ist noch erlaubt?“
Ratsunterlagen werden geschwärzt, bis sie aussehen wie Geheimakten.
Überwachungskameras gegen Drogenhandel scheitern an abstrakten Verhältnismäßigkeiten.
Fotos vom Ehrenamt? Riskant.
Vereinsjubiläen? Heikel.
Gästelisten? Minenfeld.
Und immer steht am Ende derselbe am Pranger: der Bürgermeister.
Die Gesetze entstehen fern der Wirklichkeit
Das eigentliche Problem sitzt nicht im Rathaus. Es sitzt in den Gesetzgebungsstuben von Bund und Ländern. Dort entstehen Regelwerke, die auf dem Papier elegant, in der kommunalen Praxis aber lebensfremd sind. Paradebeispiel: die Datenschutz-Grundverordnung.
Sie wurde für globale Digitalkonzerne geschrieben. Umgesetzt wird sie im Einwohnermeldeamt der 8.000-Einwohner-Stadt. Der Bürgermeister soll erklären, haften, rechtfertigen – mitreden durfte er vorher nicht.
Wenn neue Gesetze entstehen, werden Verbände gehört, Juristen befragt, Ministerialbeamte zitiert. Aber die kommunalen Praktiker? Fehlanzeige.
Die Rechnung zahlen die Bürgermeister. Sie sollen erklären, rechtfertigen, haften. Sie sind verantwortlich – aber nicht beteiligt. Das ist politisch bequem, demokratisch schief und praktisch brandgefährlich. Der Staat spart sich die Wirklichkeit und wundert sich dann über die Folgen.
Wenn ein Geburtstagsgruß zur Mutprobe wird, hat der Staat den Kontakt zur Wirklichkeit verloren.“
Verwaltung der Überforderung statt Lösung des Problems
Natürlich kann man den Kommunen raten:
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mehr Einwilligungen,
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mehr Schulungen,
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mehr Dokumentation,
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mehr Schwärzungen.
Das ist korrekt. Aber es ist Symptombekämpfung. Verwaltung des Stillstands. Organisation der Überforderung.
Die unbequeme Wahrheit lautet: Die DSGVO-Dramen sind nur das sichtbarste Symptom eines strukturellen Konstruktionsfehlers. Kommunen sind Hauptvollzugsbehörden – aber politisch massiv unterrepräsentiert.
Sie setzen um.
Sie erklären.
Sie beruhigen.
Sie zahlen.
Aber mitentscheiden dürfen sie kaum.
Der Bundesrat entscheidet – ohne die Kommunen
Die eigentliche Machtfrage dieses Landes wird im Bundesrat beantwortet. Und dort sitzen ausschließlich Ländervertreter. Die kommunale Ebene bleibt draußen – strukturell, systematisch, dauerhaft.
Dabei werden die großen Konflikte längst nicht mehr in Staatskanzleien entschieden, sondern in Rathäusern:
Genau hier liegt der Kern des Problems: Die kommunale Ebene ist die stärkste, aber politisch machtloseste Ebene des Staates. Sie trägt Migration, Unterkunft, Sicherheit, Energie, Sozialhilfe, Infrastruktur. Aber wenn über die Spielregeln entschieden wird, sitzt sie draußen vor der Tür. Der Bundesrat redet über Kommunen – aber nicht mit ihnen.
Das ist kein Schönheitsfehler. Das ist ein Konstruktionsfehler.
Das ist nicht mehr zeitgemäß. Es ist gefährlich.
Ein Staat, der seine Gesetze ohne seine Kommunen macht, wird an der eigenen Praxis scheitern.“
Die radikale, aber überfällige Reform
Deutschland braucht keine neue Taskforce. Kein weiteres Förderchaos. Keine Symbolpolitik. Es braucht eine echte Staatsreform.
Mein Vorschlag:
70 Bürgermeister, 70 Ländervertreter im Bundesrat.
Fester Schlüssel. Regelmäßiger Wechsel. Gleiches Stimmrecht.
Stadt, Land, Kreis – abgebildet nach Verantwortung, nicht nach Parteibuch.
Was das ändern würde?
Plötzlich säßen dort Menschen,
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die wissen, was ein fehlender IT-Administrator bedeutet,
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die wissen, warum Ehrenamtliche wegen Datenschutz abspringen,
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die erleben, wie Förderprogramme an der Realität scheitern.
Dann hätte die Praxis endlich ein Vetorecht gegen lebensfremde Gesetzgebung.
Was Kommunen jetzt tun müssen
Doch bis dahin bleibt uns in den Kommunen nur der tägliche Spagat:
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saubere Standard-Einwilligungen für Fotos und Ehrungen,
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strikte Trennung interner Unterlagen von öffentlichen Ratsinfos,
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frühzeitige Einbindung der Datenschutzbeauftragten – nicht aus Angst, sondern aus Selbstschutz.
Wer heute nicht strukturiert vorsorgt, wird morgen strukturiert verklagt.
Wenn Gratulieren zur Mutprobe wird, läuft etwas grundfalsch
Wenn ein Geburtstagsgruß zum Risiko wird, dann stimmt das Verhältnis zwischen Staat und kommunaler Wirklichkeit nicht mehr.
Die Kommunen tragen diesen Staat.
Sie halten ihn am Laufen.
Sie erklären ihn jeden Tag den Bürgern.
Es wird höchste Zeit, dass sie ihn auch entscheidend mitgestalten dürfen.
Denn ein Staat, der seine Gesetze ohne seine stärkste Ebene macht, wird immer öfter an der eigenen Praxis scheitern. Und dann darf man sich am Ende nicht wundern, wenn selbst das Gratulieren zur Mutprobe wird.