
Neue Bundesregierung
Über 200 Kommunen fordern Staatsreform
So wie es ist, kann es nicht bleiben. Dieser Meinung sind mehr als 200 Bürgermeister und Bürgermeisterinnen sowie Führungskräfte aus Verwaltung, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Sie alle haben in dieser Woche den Aufruf „Für einen Zukunftsstaat – Aufruf für eine mutige Staatsreform“ unterzeichnet.
Die Unterzeichner fordern die kommende Koalition im Bund auf, „die Handlungsfähigkeit des Staates durch gezielte Reformen zu stärken und eine Staatsreform zu einer Priorität in den Koalitionsverhandlungen zu machen“. Die Forderungen reichen von Vorschlägen zur Modernisierung von Verwaltungsstrukturen über die wirkungsvollere Nutzung staatlicher Ressourcen bis hin zur Reform der föderalen Aufgabenverteilung.
Staatsreform: Das sind die zentralen Forderungen
• Stärkung der Kommunen durch eine effektivere Aufgabenteilung im Föderalismus
• Modernisierung von Verwaltungsprozessen, die bürgernah, effizient und digital sind
• Neue Steuerungslogik für staatliche Mittel, gekoppelt an konkrete Wirkungsziele
• Bessere Gesetze, die praxisnah mit Kommunen und betroffenen Gruppen entwickelt und kontinuierlich auf ihre Wirksamkeit überprüft werden
• Attraktivere Arbeitsbedingungen in der Verwaltung, um die besten Köpfe für den öffentlichen Dienst zu gewinnen
• Partnerschaften mit Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft, um gesellschaftliche Herausforderungen gemeinsam zu lösen
• Resiliente und wehrhafte Verwaltung, die demokratische Institutionen gegen anti-demokratische Angriffe schützt und stärkt
Bürgermeisterin fordert mehr Vernetzung und gemeinsame Ansätze
Erst vor einem Jahr trat Claudia Brandes ihr Amt als Bürgermeisterin im hessischen Petersberg - vor den Toren von Fulda - an. Die kommunale Handlungsfähigkeit steht für die 33-jährige Politikerin absolut im Mittelpunkt. Viel zu oft, sagt sie, ersticken wir an bürokratischer Komplexität und Einzelfallprüfungen. „Aber die aktuellen Herausforderungen wie Klimawandel, digitale Transformation oder soziale Integration brauchen schnelle und unbürokratische Lösungen. Hier müssen wir weg von kleinteiligen Prüfprozessen, hin zu einer Verwaltung, die die Probleme wirklich löst. Wenn wir anfangen, über Gemeindegrenzen hinweg zu denken und zu kooperieren, dann können wir schneller und besser werden." Ihre Forderung: Vernetzung und gemeinsame Ansätze. Ihr fehle in Deutschland generell eine Innovationskultur in der öffentlichen Verwaltung. Außerdem Anreizsysteme und digitale Kompetenzen.
Brandes rennt mit Modernisierung offene Türen ein
Für überflüssig hält Claudia Brandes dagegen bürokratische Komplexität und den ständigen Drang, Einzelfälle mehrfach abzusichern.
In der Wirtschaft würden solche Arbeitsabläufe längst nicht mehr rentabel sein. Wir reden von Digitalisierung, aber faktisch arbeiten unsere Behörden noch mit Papierformularen und Stempeln aus dem letzten Jahrhundert. Auch das Faxgerät gehört oft noch zum Standardrepertoire. Start-ups entwickeln in zwei Wochen eine App, während unsere Verwaltung Monate braucht, um ein digitales Formular zu gestalten. Das ist nicht nur ineffizient – das kostet unseren Standort Deutschland echte Wettbewerbsfähigkeit.
Claudia Brandes, Bürgermeisterin der Gemeinde Petersberg
Kein Verständnis hat Claudia Brandes für den anscheinend noch immer geläufigen Satz: „Das haben wir schon immer so gemacht“. Zudem höre sie häufig, dass es in Rathäusern und generell in Verwaltungen auch deshalb nicht vorwärts gehe, weil die Mitarbeitenden nicht „scharf auf Veränderungen“ seien und entsprechend diesem Ansatz auch nicht mitziehen. Sie selbst sei sehr froh darüber, dass sie mit ihren Ideen bei ihren Leuten oft offene Türen einrenne. Aber sie wisse auch sehr gut, dass dies eben nicht überall so sei.
OB Kiel: „Ersticken an unserer selbstverschuldeten Komplexität“
Auch Ulf Kämpfer, Oberbürgermeister der Stadt Kiel, hat den Aufruf unterzeichnet. Er lässt sich mit den Worten zitieren: „Die Akzeptanz unserer offenen und demokratischen Gesellschaft hängt maßgeblich davon ab, ob die Kommunen in der Lage sind, die Alltagsprobleme der Menschen zu lösen. Viel zu oft ersticken wir an unserer selbstverschuldeten Komplexität. Die Kommunen brauchen weniger Bürokratie und mehr Handlungsspielraum, denn die Aufgaben der nächsten Jahre sind gewaltig, beispielsweise mit Pauschalen statt Einzelfallprüfungen.“
BM Hofstetten: „Staat braucht mehr Expertise von der kommunalen Basis“
Das sieht Martin Aßmuth, seit 2018 Bürgermeister der kleinen Gemeinde Hofstetten im Kinzigtal im Schwarzwald, ganz ähnlich. Er hat sich dem Aufruf angeschlossen, weil er der Meinung ist, dass das grundgesetzliche Recht zur kommunalen Selbstverwaltung Stück für Stück „ausgehöhlt“ werde. „Der Staat im Allgemeinen und auch die Bundesregierung brauchen definitiv mehr Expertise von der kommunalen Basis. Nirgendwo gibt es bessere Gradmesser, um aufzuzeigen was funktioniert und was nicht. Wir ersticken in Bürokratie, es war noch nie so schlimm wie aktuell. Deshalb habe ich unterschrieben.“ Es brauche, sagt er, staatliches Handeln auf „Augenhöhe“ und ein stärkeres Einbeziehen der Kommunen. Da sei leider eine Schieflage entstanden.
Wir als Kommunen sind aufgrund vieler staatlicher Leistungsversprechen nicht mehr handlungsfähig, das sieht man etwa an der Diskussion zum Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule. Besonders bedarf es jedoch einer passgenaueren Verwendung von staatlichen Ressourcen. Was wir nicht brauchen, sind ideologiegetriebene Förderprogramme, vielmehr einen zielorientierten Einsatz zur Verbesserung und dem Erhalt kommunaler Infrastrukturen.
Martin Aßmuth, Bürgermeister der Gemeinde Hofstetten
Das Vertrauen der Bürger in staatliches Handeln sei nie schlechter gewesen als gerade jetzt - auch wenn die Kommunen besser abschneiden. Aber insgesamt sei ein besorgniserregender Trend zu verzeichnen. Gerade deshalb nennt der Hofstettener Bürgermeister den aktuellen Aufruf von der kommunalen Basis einen "Weckruf für die Politik".
Staatsreform soll das Land wieder auf den richtigen Kurs bringen
Nicht selten gehen Aufrufe wie dieser nach einer kurzen Aufmerksamkeit unter. Was oder wer macht Martin Aßmuth Hoffnung, dass der Appell in den Sesselreihen der neuen Bundesregierung auf fruchtbaren Boden fallen wird? „Der Aufruf für eine mutige Staatsreform wird von einem breiten, überparteilichen Spektrum getragen“, sagt der Bürgermeister. „Wenn ehemalige Bundesminister und Verfassungsrichter diesen aus Überzeugung mitunterzeichnen, dann muss auch der zukünftige Kapitän des ‚Tankers Deutschland‘ erkennen, dass wir in die falsche Richtung steuern.“ Er wolle jedenfalls seinen bescheidenen Teil dazu beitragen, dass das Land wieder auf den richtigen Kurs komme. „Die Menschen vor Ort und wir Kommunen brauchen Veränderung und das muss in der Gesellschaft benannt und diskutiert werden.“
Ein enormer Reformdruck - das Momentum könnte besser nicht sein
Die Bandbreite und Einigkeit der Unterzeichnenden belege den enormen Reformdruck, sagt auch Bürgermeisterin Claudia Brandes. Sie erhofft sich insbesondere von der neuen Bundesregierung, dass sie die Wichtigkeit von Innovation und Leistungsfähigkeit erkennen möge und ihre Ziele unter Einbeziehung der kommunalen Vertreterinnen und Vertreter umsetze. „Das Momentum könnte nicht besser sein“, unterstreicht die Rathauschefin in Petersberg. "Insbesondere die jüngere Generation, zu der ich mich selbst zähle, akzeptiert keine ineffizienten Systeme mehr. Wir sind digital sozialisiert und fordern Veränderungen proaktiv ein. Meine Botschaft ist deshalb klar: Unser Land muss sich jetzt modernisieren. Andernfalls werden wir den Anschluss verlieren.“ Die entscheidende Frage werde sein, ob Deutschland den politischen Willen und die Courage habe, wirklich grundlegende Reformen anzugehen – und nicht nur kosmetische Korrekturen vorzunehmen. Auch sie will gerne dabei helfen, den „Tanker Deutschland“ in Bewegung zu bringen.
Woher kommt der Aufruf zur Staatsreform?
Die Unterzeichnenden sind sich einig: Der Status Quo ist keine Option. „Der Staat muss schneller, wirkungsorientierter und handlungsfähiger werden – um Krisen zu bewältigen, gesellschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen und das Vertrauen in die Demokratie zu stärken.“ Formuliert wurde der Aufruf vom Team „Re:Form“, eine Initiative der gemeinnützigen Organisation ProjectTogether.
Hier können Sie den vollständigen Aufruf und die Namen der Unterzeichner und Unterzeichnerinnen einsehen. Und Sie können natürlich auch selbst unterzeichnen.