Kommunale Finanzen
Kämmerer: Lage der Kommunen hochgradig demokratiegefährdend
Der Anteil der Sozialleistungen an kommunalen Budgets wächst stetig. Wie hoch ist der Anteil in Lünen derzeit?
Die Sozialausgaben lassen sich so trennscharf in einem Haushalt mit 400 Millionen, davon nur 12 Millionen Eigenkapital, gar nicht benennen. Allerdings kann ich sagen, dass knapp zwei Drittel aller Ausgaben für Soziales und für Personal verwendet werden. Das Personal, um die Sozialausgaben abzuwickeln, muss ja auch bezahlt werden.
Welche Posten sind im Wesentlichen für den Anstieg verantwortlich?
Die Kinder- und Jugendhilfe, einschließlich Kita-Bereich sowie über die Kreisumlage die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen und die Hilfe zur Pflege. Diese Kosten wachsen schlicht ungebremst.
Welche Rolle spielt die schon erwähnte Kreisumlage?
Eine große. Auch wenn ich weit davon entfernt bin zu behaupten, dass im Kreis Unna und im Landschaftsverband Westfalen-Lippe nicht gut mit dem Geld umgegangen wird. Aber wenn 20 Prozent des Haushaltes an den Kreis gehen, dann ist das schon eine Hausnummer. Dagegen können die Umlageverbände aber nicht ansteuern.

Ich halte die schlimme Lage der Kommunen nicht nur in Lünen für hochgradig demokratiegefährdend."
Allein im Jahr 2024 war Lünen mit 6,5 Millionen zusätzlichen Rückstellungen für Beamtenpensionen konfrontiert. Wie konnten Sie dieses Problem lösen?
Das Expertengutachten für die Rückstellungen hat uns im letzten Sommer kalt erwischt. Ich musste deswegen Ende August 2024 eine Haushaltssperre aussprechen. Keine Entscheidung ist mir in Lünen so schwergefallen wie diese. Sie war aber erforderlich und es ist hierdurch gelungen, zumindest im Haushaltsjahr 2024 noch einmal mit einem blauen Auge davonzukommen.
Hinweis: Eine ausführliche Veranstaltung zum Thema Finanzen mit zahlreichen Experten und konkreten Tipps für Kommunen findet am 27. und 28. August in Göttingen im Rahmen der Messe-KOMMUNAL statt. Hier finden Sie alle Informationen:
Was bedeutet das für die Liquidität Ihrer Stadt und für dringend notwendige Investitionen?
Wir haben kein eigenes Geld mehr, sondern müssen es uns bei den Banken leihen. Das schränkt natürlich auch unser Investitionsverhalten ein. Tatsächlich bin ich mit der Infrastruktur in Lünen aber moderat zufrieden. Auf den ersten Blick ist die Situation gut, da haben meine Vorgänger im Amt gut gearbeitet. Aber in der jetzigen Lage müssen wir selbst beschlossene Maßnahmen noch einmal auf den Prüfstand stellen – und zwar alle, die „den Bahnhof noch nicht verlassen haben“.
Sie streben eine Haushaltskonsolidierung an. Wie könnte diese gelingen?
Die Antwort ist einfach: ohne staatliche Hilfen gar nicht. Aus eigener Kraft kann die Kommune das nicht stemmen. Uns bleibt gerade so die Luft zum Atmen.
Was bedeutet dieser Prozess für Ihre Bürgerinnen und Bürger?
Ich halte die schlimme Lage der Kommunen nicht nur in Lünen für hochgradig demokratiegefährdend. Wir bekommen immer mehr Aufgaben, aber nicht die zur Erledigung notwendige Finanzausstattung. Wir können höchstens noch an der Steuerschraube drehen, obwohl dies zutiefst ungerecht ist, weil wir den Staat insoweit aus seiner Verantwortung entlassen, endlich für eine robuste und auskömmliche kommunale Finanzausstattung zu sorgen.
Viele Kommunen stehen finanziell mit dem Rücken zur Wand. Welche konkreten Forderungen haben Sie kurz- und mittelfristig an Ihr Bundesland und an die neue Bundesregierung?
Im Kern brauchen wir zunächst einen Altschuldenschnitt. In Nordrhein-Westfalen hat man sich da lange nicht bewegt, aber jetzt ist man dran. Immerhin. Zweitens ist eine auskömmliche Grundfinanzierung der Kommunen unabdingbar. Die staatlichen Einnahmen müssen gerechter verteilt werden, als das im Moment der Fall ist. Wer mehr Aufgaben übernimmt, muss auch mehr vom Kuchen abbekommen. Drittens: Wer mit den Aufgaben belastet wird, muss gleichzeitig auch die Mittel für die Umsetzung erhalten. Viertens: Wir müssen offen und sehr kritisch diskutieren, was eigentlich die grundlegenden Aufgaben des Staates, der Länder und der Kommunen sind. Es kann nicht sein, dass wir in Nordrhein-Westfalen 7 Milliarden Euro zum Beispiel für die Eingliederungshilfe aufbringen müssen, und zwar ohne Beteiligung des Landes.
Was halten Sie von der Praxis der Fördermittelverteilung?
Nichts. Eine Reform der kommunalen Finanzen muss – das wäre mein letzter Punkt – auch eine Neugestaltung der Fördermittelpraxis beinhalten. Abgesehen von übergreifenden Großprojekten, gehören die Milliarden an Fördergeldern direkt zur freien Verwendung in die Kommunen. Schließlich wissen wir in den Städten und Gemeinden selbst am besten, wo die Bedarfe liegen. Wir müssen weg von dem goldenen Zügel, der uns als Kommunen kaum noch Freiheiten lässt.
Trauen Sie der neuen Bundesregierung einen großen Wurf bei den kommunalen Finanzen zu?
Jetzt habe ich viel geklagt und viel kritisiert. Aber ein Blick in den Koalitionsvertrag zeigt, dass einiges für die Kommunen getan werden soll. Ein wenig Vertrauensvorschuss sollten wir schon bereithalten und der GroKo eine faire Chance geben. Sicher ist aber auch eines: Liefern muss die Regierung – und zwar schnell. 500 Milliarden Sondervermögen für Investitionen sind beschlossen.
Was erhoffen Sie sich in diesem Zusammenhang für die notleidenden Kommunen?
Vor Ort freuen wir uns immer über frisches Geld. Aber für Länder und Kommunen sind ja davon nur 100 Milliarden vorgesehen. Und damit ist auch noch eine Reihe an offenen Fragen verbunden. Gesamtstaatlich darf aber man aber die Frage stellen, ob ein schuldenfinanziertes Sondervermögen für Infrastruktur nicht letztlich nur den Zwang umgeht, neue Prioritäten zu setzen.
Sie sind seit zweieinhalb Jahren Kämmerer in Lünen. Was hält Sie im Amt?
Trotz der derzeit niederschmetternden Zahlen in meiner Kommune bin ich sehr, sehr gerne Kämmerer in Lünen. Und ich habe eine ungebrochene Leidenschaft und Freude an kommunaler Politik. Ohnehin sollten wir wieder mit mehr Hoffnung in die Zukunft schauen. Anpacken und ein positiver Teil der Veränderung sein – das ist meine Devise.
Dr. André Jethon ist Beigeordneter und Kämmerer der Stadt Lünen und forscht als promovierter Sozialwissenschaftler seit Jahren mit den Schwerpunkten Kommunalfinanzen und effizienzorientierte Verwaltungsreformen. Er lehrt am Institut für Arbeitswissenschaft an der Ruhr-Universität.

