Dorfläden wie hier in Barmen brauchen neue Konzepte, wenn sie nicht aussterben sollen. ©Annette Lübbers

Dorfläden retten - aber wie?

20. Oktober 2016
Kein Arzt, keine Apotheke, kein Lebensmittelladen. Viele ländliche Regionen werden abgehängt. Das Leben auf dem Land neu erfinden hat sich daher das Projekt DORV auf die Fahnen geschrieben. Mit großem Erfolg! Von Hürden und Helden – die KOMMUNAL-Reportage aus Barmen bei Jülich.

Text: Annette Lübbers Wenn Heinz Frey das kleine Dorfzentrum betritt, gibt es jedes Mal ein großes „Hallo“. Zwischen Zeitschriften, Konserven, frischem Obst und Wurstwaren aus der Region steht der 61-Jährige, schüttelt Hände und plauscht mit der Kundschaft. Der ehemalige Lehrer und heutige Sozialunternehmer erfreut sich großer Beliebtheit. Kein Wunder. Ohne den quirligen Mann mit dem grauen Haar und dem fröhlichen Lachen müssten die Bürger des Dorfes für jeden 20-Euro-Schein, für jedes Kotelett und für jeden Apfel in die nächste Stadt fahren.

Heinz Frey rettete die Dorfläden in Barmen. ©Annette Lübbers

„Net mulle – maache!“, sagt Heinz Frey gerne. „Nicht maulen – machen!“ Diesen Grundsatz hat er sich schon immer zu Herzen genommen. Als Lehrer genauso wie als Vertreter seiner Gemeinde im Jülicher Stadtrat. Heinz Frey redet nicht lange, er packt an. Auch wenn es Gegenwind gibt. Den gab es auch, als Heinz Frey beschloss, seinem 1400-Seelen-Dorf nicht länger beim Sterben zuzusehen. Vor 30 Jahren war in seinem Ort die Welt noch in Ordnung. Acht Lebensmittelläden, zwei Metzgereien, eine Bäckerei und diverse Gaststätten versorgten die Barmer mit allem Notwendigen. Nacheinander schlossen alle Läden ihre Pforten. Als 2002 auch noch die Sparkasse abwandern wollte, da platzte Heinz Frey der Kragen. „Die Alten schicken doch ihre autofahrenden Enkel nicht mit dem Sparbuch in die nächste Stadt.“

Konzept Dorfläden 2.0

Kurz entschlossen scharrte Heinz Frey ein paar Gleichgesinnte um sich und reiste kreuz und quer durch Deutschland. Schauen, was anderswo geht in Sachen Dorfentwicklung. Mehr als einmal verbrachte er die Nacht im Zug, ging kurz zum Duschen und Frühstücken nach Hause und stand morgens pünktlich vor seinen Schülern. Fazit seiner „Wanderschaft“: Es gibt mancherorts nichts und anderenorts nur etwas. Rundumversorgung? Fehlanzeige. Also bastelte er zusammen mit seinen vier Mitstreitern an einem eigenen Konzept. Was braucht ein Dorf zum Überleben? Einen Lebensmittelladen mit frischen Angeboten aus der Region, Zeitschriften, Getränke, eine Bäckerei, ein Cafe, einen Paketdienst, eine Reinigung, eine Wäscherei, einen Bankautomaten, einen Apothekendienst, einen Formularservice, eine Vermittlung für Pflegedienste und eine medizinische Grundversorgung. Heinz Frey lacht: „Das waren die fünf Säulen, auf denen unser Konzept bis heute beruht. Kaum hatten wir das Konzept vorgestellt, meldeten sich gefühlt 100 Leute, die alle wussten, wie es nicht geht.“

Das
Heute, zwölf Jahre später, steht das Dorfzentrum – in den Räumen der ehemaligen Sparkasse. Es bietet an sieben Tagen die Woche Lebensmittel, Dienstleistungen, Kommunikationsangebote, eine sozialmedizinische Versorgung und kulturelle Angebote. Und zwar alles unter einem Dach. Nicht zu jedem Zeitpunkt, aber immer verfügbar, wenn es gebraucht wird. Dafür sorgen zwei Vollzeit- und sieben Teilzeitkräfte im Dorfzentrum. Die Barmer Bürger können einkaufen, Geld abheben, sich über Reiseangebote informieren, ihr Auto zulassen, Wäsche für die Reinigung abgeben, Briefmarken kaufen, Kaffee trinken, Medikamente bestellen und Anzeigen aufgeben. Ein Hausarzt kommt einmal die Woche aus dem nahen Linnich und macht Hausbesuche. Sogar ein Zahnarzt praktiziert wieder in den hinteren Räumen des Hauses – ein Zugereister aus der Stadt. Heinz Frey schmunzelt: „Auch das Arrangement ist eines auf Gegenseitigkeit. Hier vorne verkaufen wir die schlechten Bonbons und der Herr Zahnarzt kriegt neue Kundschaft.“

Viele Hürden lagen auf dem Weg zum "Dorv"-Zentrum

Hindernisse gab es auf dem Weg mehr als genug. Hürde 1: Die ursprünglich vorgesehene Genossenschaft hätte viel zu viel Geld verschlungen. Die Lösung: Die Betreiber bildeten eine einfache Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Die GbR ist Gesellschafterin der DORV-Zentrum GmbH. Hürde 2: Für die 100.000 Euro Startkapital fanden sich keine Fördermittel und keine Zuschüsse. Die Lösung: Die Initiative um Heinz Frey gab Bürgeraktien zu 250 Euro aus. Dazu kamen Privatkredite – und ein Existenzgründungsdarlehen der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Letzteres wurde allerdings erst genehmigt, als Heinz Frey persönlich die Bürgschaft über eine Summe von 35.000 Euro übernahm. Hürde 3: Hygienevorschriften. Schließlich sollte in einem großen Raum gleichzeitig Frischfleisch verkauft, schmutzige Nummernschilder gelagert und Formulare und Reisekataloge angeboten werden. Heinz Frey trat die Flucht nach vorne an und nahm schon in der frühen Phase Kontakt zum zuständigen Veterinäramt auf – mit Erfolg. „Der Fachmann hat einfach das bestehende Gesetzeswerk sinnvoll und angemessen ausgelegt“, erzählt der Sozialunternehmer. Hürde 4: Eine Außenstelle für KFZ-Anmeldungen konnte es nicht geben. Die Lösung: Das Formular wird im Zentrum angeboten und eingereicht. Ein Mitarbeiter fährt gegen eine kleine Gebühr mit dem Antrag in die nächste Stadt. Hürde 5: Keine Postdienstleistungen möglich, wenn das Zentrum die Post nicht subventioniert. Die Lösung: Das Zentrum verkauft Briefmarken zum Selbstkostenpreis und sorgt für einen privaten Paketdienst. Hürde 6: Den Briefkasten 500 Meter weiter im Zentrum neu aufzustellen, dafür fühlte die Post sich nicht zuständig. Die Lösung: Durch einen persönlichen Kontakt von Heinz Frey fand sich eine Beamtin, die den Postkasten auf dem kleinen Dienstweg „verschob“. An weiteren Ideen – etwa ein Car-Sharing-Angebot – arbeiten die Betreiber. Ebenso wie an der Gemeinnützigkeit, die man dem der GbR bislang verweigert. Heinz Frey: „Wir tragen uns selbst, aber wir sind nicht profitorientiert. Anders würde es auch nicht gehen. Trotzdem verweigert man uns bisher die Gemeinnützigkeit.“ Heinz Freys Initiative macht Schule. Dafür sorgt er als Sozialunternehmer mit seinen vorwiegend Teilzeit-Mitarbeitern selbst. Mittlerweile hat er deutschlandweit knapp 30 Zentren gegründet. Nur zwei haben bisher wieder geschlossen. „Die waren aber auch beratungsresistent“, sagt Heinz Frey. Aktuell begleitet er mit seinem Team 20 neue Zentren in unterschiedlichen Phasen der Umsetzung. Zusammen mit seinen Kollegen besichtigt er die Gegebenheiten vor Ort – etwa Bevölkerungsstruktur, Verkehrsanbindung, Umsatzmöglichkeiten und Potenziale –, danach formuliert er Handlungsempfehlungen und kalkuliert erste Gewinn- und Verlustrechnungen. Im Anschluss geht es darum, die Bevölkerung einzubinden, die Bereitschaft zur Mitarbeit abzuklopfen und Bedarfe zu erfassen. Bis zur Neueröffnung stehen Heinz Frey und sein Team den Neugründern als Begleiter zur Verfügung. Partneranalysen, Machbarkeitsstudien und Businesspläne sind für ihn längst keine Fremdworte mehr. Selbst städtische Quartiere bitten um seine Dienste. Heinz Frey schmunzelt: „Das Interesse ist wirklich groß. Mittlerweile haben wir 60 Anfragen im Jahr. Deshalb haben wir in Berlin, Bühl, Freiburg, Fulda und Wolfsburg schon Regionalbüros gegründet.“ Getreu seinem Motto: „Net mulle – maache!“