Demo gegen den Krieg Stop-War-Schild
Wer vor Waffenlieferungen an die Ukraine warnt, nicht Kriegspartei werden will und sich vor der Atombombe fürchtet, hat den Sinn von Demokratie und Politik nicht verstanden.
© adobeStock

Analyse

Der Dritte Weltkrieg hat längst begonnen

„Deutschland muss raus aus seinem Dämmerzustand“, fordert Zukunftsforscher Daniel Dettling. "Der Angriffskrieg gegen die Ukraine gilt dem ganzen Westen und seinen offenen Gesellschaften. Der Dritte Weltkrieg, vor dem die neue deutsche Friedensbewegung warnt, hat längst begonnen."

Zeitenwende, Energiewende, Agrarwende, Wärmewende und jetzt die Panzerwende. Bislang bestand die deutsche Politik aus Wendemanövern ohne klaren Kurs. Eine solche Zukunftspolitik ist teuer und billig. Teuer, weil sie oft zu spät kommt und billig, weil sie uns und unseren Geldbeutel verschont und die Lasten in die Zukunft, auf die nächsten Generationen schiebt. Zu Bonner Zeiten bestand die deutsche Außenpolitik im Ausstellen von Schecks, heute schickt frau und man alte Panzer. Das „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro taucht nicht im Haushalt auf, sondern soll ins Grundgesetz, um die Schuldenbremse zu umgehen. Die Begründung der Bundesregierung lässt für andere Zukunftsaufgaben wenig Gutes ahnen: „Es wird das Instrument eines Sondervermögens gewählt, weil diese Finanzierungsaufgabe sehr umfangreich und von längerer Dauer sein wird.“ Aufgaben wie die Klimakrise, Bildung und die Pflege einer älter werdenden Gesellschaft fallen in die gleiche Kategorie.  Und die Begleichung der Schulden? Die „soll in einem angemessenen Zeitraum“ erfolgen.

Zukunftsoptimismus auf dem Tiefstand

Bei so wenig Zukunftspolitik ist es kein Zufall, dass der Zukunftsoptimismus der Deutschen auf einen neuen Tiefststand gefallen ist. So viel Angst und Sorge gab es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Ost und West. Vor einer „Dämmerung der Demokratie“ warnt die polnisch-amerikanische Journalistin und Historikerin Anne Applebaum in ihrem neuen Buch („Die Verlockung des Autoritären“). In Deutschland befindet sich die politische Führung seit Helmut Kohl im außenpolitischen Dämmerzustand. Was die Nachfolger Gerhard Schröder, Angela Merkel und Olaf Scholz weltpolitisch verbindet: „Long on rhetoric, short on substance.“ Wer die Reden der drei Kanzler in Israel liest und vergleicht, wird den Verdacht nicht los, sie stammen aus der Feder desselben Redenschreibers. Ähnlich verhält es sich mit der ständigen Mahnung des "Nie wieder", zuletzt zitiert am 8. Mai von Bundeskanzler Olaf Scholz zum 77. Jahrestag der deutschen Kapitulation und der Versicherung, „die Sicherheit Israels ist für uns Staatsräson“, erstmals vorgetragen von Merkel 2008 im israelischen Parlament und von Annalena Baerbock im Februar 2022 in Tel Aviv wiederholt. Den Versprechen folgen Taten, wenn überhaupt, sehr spät und zu wenige.

Was, wenn Israels Sicherheit tatsächlich bedroht wird und die einzige Demokratie im Nahen Osten angegriffen wird? Würden wir dann ebenfalls „Panzer im Ringtausch“ schicken? Vom deutschen Hochgeist wird auch dann wenig zu erwarten sein. Schriftsteller, Sänger und Schauspieler werden auch dann Offene Briefe an Kanzler und Außenministerin schreiben, zur „Deeskalation“ aufrufen und eine „mutige Friedenslogik“ einfordern. Dabei sind wir nicht erst mit der Lieferung von Waffen „Kriegspartei“.

Putins Krieg ein Vernichtungskrieg gegen unsere Werte

Wir sind schon lange Kriegspartei. Wir sind es schon lange, ohne es uns einzugestehen. Für Putin ist Deutschland – wie die gesamte NATO - längst Kriegspartei. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine gilt dem ganzen Westen und seinen offenen Gesellschaften. Der Dritte Weltkrieg, vor dem die neue deutsche Friedensbewegung warnt, hat längst begonnen. In den russischen Medien wird auch die deutsche Regierung als „nazistisch“ und „faschistisch“ dargestellt. Was, wenn Putin nicht nur Kiew, sondern auch Berlin „denazifizieren“ und russische Bürger „schützen“ will?  Putins Krieg gegen die Ukraine ist in Wahrheit ein Vernichtungskrieg gegen unsere Werte und unsere Vorstellung, wie wir in Zukunft leben wollen.

„Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“ gehörte zu den beliebtesten Sprüchen der deutschen Friedensbewegung. Daraus ist heute „Wenn es Krieg gibt, haut ab“ geworden. In ihrem früheren Zentralorgan, der „tageszeitung“ (taz), räsonierte jüngst einer ihrer Veteranen offen über die Frage, ob er im „Ernstfall“ zur Verteidigung der Demokratie in den Krieg ziehen oder besser auswandern würde. Seine eigenen Kinder würden allenfalls Berlin verteidigen, aber eher das Land verlassen. Doch was, wenn Putin auch nicht vor Peru  Halt macht?

Deutschland muss wieder politischer werden

Wenn nicht die Ukraine oder Israel, würden wir wenigstens unser eigenes, freies Leben gegen die Feinde der offenen Gesellschaft verteidigen? Wer vor Waffenlieferungen an die Ukraine warnt, nicht Kriegspartei werden will und sich vor der Atombombe fürchtet, mag Pazifist sein, hat aber den Sinn von Demokratie und Politik nicht verstanden. Ihr Sinn sind Freiheit und Vielfalt. Wenn wir beide verteidigen wollen, müssen wir wieder politischer werden. Nur Wirtschafts- und Friedensmacht zu sein, wird nicht mehr reichen. Wenn wir uns von autoritären Regimen ökonomisch abhängig machen, ist früher oder später auch unser freies Leben bedroht.



Emmanuel Macron, der wiedergewählte Staatspräsident, hat auch in diesem Wahlkampf für die Werte Europas in einer Form gestritten, die bei uns allenfalls in Sonntagsreden vorkommt. Sein erneuter Sieg gegen die rechtsextreme Marine Le Pen hinterlässt aber auch ein tief gespaltenes Land, in dem die früheren Volksparteien nicht mehr existieren. Der Wettbewerb zwischen den Parteien findet nicht mehr auf der klassischen Links-Rechts-Achse statt, sondern auf einer kulturellen Achse. 

Die Dominanz sozial-ökonomischer Fragen ist der Definition der nationalen Gesellschaft gewichen. Wo sich Macron weltoffen und proeuropäisch gibt, wollen seine Gegner von links und rechts die „Grande Nation“ wiederbeleben und die europäische Integration zurückdrängen. Macron gewählt haben überwiegend die gutverdienenden Mittelschichten in den urbanen Zentren. Je ärmer und weiter weg von den Metropolen, desto mehr Franzosen stimmten für die linken und rechten Ränder.

Solidarität der deutschen Städte

„Alle freien Menschen, wo immer sie auch leben, sind Bürger von Berlin.“ Mit diesen Worten schützte der US-Präsident John F. Kennedy stellvertretend für die westlichen Verbündeten Deutschland, als der sowjetische Präsident Nikita Chruschtschow mit Atomwaffen drohte. Heute ist Kiew Berlin. Unsere Zukunft entscheidet sich in den Städten der Ukraine. Sie brauchen jegliche Form der Unterstützung, Waffen und Panzer. Und sie brauchen gelebte Partnerschaften. Jetzt wäre die Zeit für die deutschen Städte, Gemeinden und Landkreise mehr zu tun. 36 Städtepartnerschaften (davon nur 5 in Ostdeutschland) mit der Ukraine mit ihren 461 Städten sind zu wenig. Nur mit bedingungsloser Solidarität werden wir diese Krise gewinnen. 

Der Jurist und promovierte Verwaltungswissenschaftler Daniel Dettling gründete das Institut für Zukunftspolitik und leitet das Berliner Büro des Zukunftsinstituts.