Beratungssituation im Gesundheitskiosk
Niedrigschwellige Beratung im Gesundheitskiosk
© Gesundheitskiosk Hamburg Billstedt-Horn

Medizinische Versorgung

Wie funktioniert ein Gesundheitskiosk?

Noch sind Gesundheitskioske für die meisten Kommunen Neuland. Doch langfristig sollen nach den Plänen des Bundesgesundheitsministeriums bundesweit 1000 solcher Kioske aufgebaut werden. Die Kommunen können entscheiden, ob sie einen solchen Kiosk haben wollen. In Hamburg steht seit Jahren der bundesweit erste Gesundheitskiosk. Wie die Erfahrungen damit sind - und wie die Projekte finanziert werden sollen.

Wie kann der Ärztemangel bekämpft und die medizinische Versorgung weiterhin gewährleistet werden? Für viele Kommune sind dies Schlüsselfragen und ist die Situation zunehmend dramatisch. Ein Lösungsansatz könnten Gesundheitskioske sein, niedrigschwellige pflegerische und medizinische Beratungsstellen, die insbesondere bei chronischen Erkrankungen und präventiven Maßnahmen gefragt sind. 1.000 dieser Kioske sollen laut dem Bundesministerium für Gesundheit langfristig bundesweit aufgebaut werden, noch steht der Prozess ganz am Anfang. In Hamburg hat man hingegen bereits seit fünf Jahren Erfahrungen gesammelt – KOMMUNAL hat nachgefragt.

Gesundheitskiosk in sozialem Brennpunkt

Der Gesundheitskiosk in Hamburg Billstedt-Horn war der erste überhaupt in ganz Deutschland und liegt in einem Stadtteil, der als sozialer Brennpunkt bekannt ist. „Es leben hier viele sozial schwache Bürger, die Lebenserwartung ist im Schnitt 10 Jahre niedriger und der Migrationsfaktor hoch“, sagt Cagla Kurtcu, die Leiterin des Gesundheitskioskes. Hinzu kommt eine äußerst angespannt Lage bei der medizinischen Versorgung. „Auf einen Arzt kommen hier mehr als 900 Patienten, das ist für die Mediziner kaum mehr zu stemmen“, so Kurtcu. Entsprechend nahe lag es, eben hier den ersten Gesundheitskiosk zu öffnen. 2015 wurde die Projektphase gestartet, seit 2017 finden in dem Kiosk Beratungen statt. Von 2017 bis 2019 wurde das Projekt INVEST durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses finanziert. Seit 2020 läuft die Finanzierung durch kooperierende Krankenkassen, wobei der Gesundheitskiosk aktuell durch die AOK Rheinland/Hamburg und die Mobil Krankenkasse finanziert wird.

Gesundheitskiosk in Hamburg
Der erste Gesundheitskiosk deutschlandweit: in Hamburg Billstedt-Horn

Beratung und Begleitung

„Schnell und kompetent in Gesundheitsfragen beraten werden und unbürokratisch Hilfe erhalten“ – das sollen laut Gesundheitsminister Lauterbach die Gesundheitskioske für die Klienten möglich machen. „Unsere Aufgabe ist es, die Menschen im Stadtteil vor Ort zu beraten und zu begleiten, ihre Ängste und Sorgen ernst zu nehmen und sie dabei zu unterstützen, gerade bei chronischen Erkrankungen selbst aktiv zu werden“, so Kurtcu. Dabei richte sich das Angebot explizit an alle Generationen. Via welchen Weg die Patienten zum Gesundheitskiosk gelangen, ist unterschiedlich. Rund die Hälfte kommt nach einer direkten Überweisung durch den Arzt, etwa 30 Prozent der Patienten kommt von sich aus, 20 Prozent werden von sozialen Einrichtungen vermittelt, zum Beispiel vom Jugendamt, den Kitas oder Schulen im Stadtteil.

Chronische Erkrankungen im Fokus

Laut Kurtcu leiden viele der Patienten, die zum Gesundheitskiosk kommen, unter den gängigen chronischen Volkskrankheiten wie Diabetis mellitus, hohem Blutdruck oder Adipositas. „Was bedeutet die Diagnose genau? Wie bekomme ich die Erkrankung in den Griff? Bei welchen Symptomen muss ich sofort zum Arzt und was kann ich zuhause behandeln?“ Dies seien Fragen, die viele der Patienten umtreiben. Die Mitarbeiter im Gesundheitskiosk, ein Team von insgesamt 6 examinierten und akademisierten Pflegefachkräften, nehmen sich dieser Fragen an und führen in der Erstberatung eine umfangreiche Anamnese durch. In Folge kommen die Patienten laut Kurtcu meist regelmäßig zu Kontrollterminen zum Kiosk und werden mitunter über mehrere Jahre begleitet, etwa dann, wenn es um langfristige Ziele wie Gewichtsverlust oder niedrigeren Blutdruck geht.

Beratung im Kiosk
Oft geht es in der Beratung um chronische Erkrankungen.

Viele Patienten mit Migrationshintergrund

Etwa die Hälfte der Patienten hat laut Kurtcu einen Migrationshintergrund und nicht nur sie, sondern auch viele andere Patienten haben Probleme damit, die Diagnose des Arztes zu verstehen. „Sehr oft geht es bei unserer Arbeit darum, überhaupt erst einmal zu übersetzen, was der Arzt gesagt hat. Die Menschen haben teilweise frisch eine Diagnose erhalten und verstehen sie nicht richtig oder bringen Arztbriefe mit, die sie nicht einordnen können“, so die Leiterin. Zudem gebe es häufig eine große Unsicherheit, wie das deutsche Gesundheitssystem mit den Fachärzten funktioniere. Um hier helfen zu können, ist das Team im Hamburger Gesundheitskiosk mehrsprachig aufgestellt und versuchen die Mitarbeiter, Klarheit zu schaffen und an die richtigen Stellen weiterzuvermitteln. „Auffangen im Gesundheitssystem“ - das ist laut Kurtcu eines der Hauptziele der Beratungsstelle, und das in mehreren Sprachen. Für die Personalsuche keine leichte Voraussetzung, gerade dann, wenn zusätzlich zur Fachausbildung eine spezielle Sprachkenntnis gefordert ist. Gleichzeitig sind die Stellen im Gesundheitskiosk für Pflegekräfte durchaus attraktiv, schließlich umfassen sie keine Wochenend- und Schichtdienste.

Enge Abstimmung mit Ärzten

In der Praxis kommen viele Patienten ohne Termin zum Gesundheitskiosk, fast nie handelt es sich dabei um akute Fälle, vielmehr stehen chronische Probleme im Vordergrund. „Wir bieten keine konkrete medizinische Behandlung an, sondern sind ausschließlich für die Beratung der Patienten zuständig“, sagt Kurtcu. Möglich seien im Gesundheitskiosk bestimmte Messungen, die oft entscheidend sind für eine Bewertung des Behandlungsverlaufs. „Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn ein Patient beim Diabetologen war und sein Blutzucker höher war als zuvor. Der Arzt überweist ihn dann an uns und wir klären den Patienten darüber auf, woher das kommen könnte, fragen intensiv nach und sprechen mit ihm über Ernährung, Bewegung oder Stressfaktoren“, so Kurtcu. In Folge gehe es darum, eine Verhaltensänderung zu erreichen und den Patienten kontinuierlich dabei zu begleiten. Erkennen die Mitarbeiter, dass es sich um einen Fall handelt, bei dem dringend ein Arzt aufgesucht werden sollte, vermitteln sie laut Kurtcu umgehend weiter. Ohnehin stehen die Mitarbeiter in engem Austausch mit den Ärzten und geben diesen bei Überweisung Rückmeldung über die Entwicklung des Patienten.

Enge Vernetzung mit Kommune

Die Stadt selbst ist an dem Gesundheitskiosk finanziell bislang nicht beteiligt, allerdings gibt es laut Kurtcu eine sehr enge Abstimmung und Kooperation mit den anderen sozialen Einrichtungen im Stadtteil. „Eine gute Vernetzung ist bei unserer Arbeit das A und O“, so Kurtcu, und es helfe sehr, wenn alle voneinander Bescheid wüssten. „Wir betrachten die Menschen, die zu uns kommen, ganzheitlich“, so Kurtcu, und oft erfahre man bei den Gesprächen viele persönlichen Hintergründe, die weit über das eigentliche Symptom hinausgehen würden. Kommt beispielsweise ein Patient mit Bluthochdruck, stecken dahinter manchmal große private Probleme oder finanzielle Sorgen; wird ein Kind von der Lehrerin an den Gesundheitskiosk überwiesen, weil es extrem übergewichtig ist und seine Eltern sich nicht kümmern, schauen sich die Mitarbeiter das Kind mit seiner Familiensituation ganzheitlich an und vermitteln es unter Umständen auch an andere soziale Einrichtungen weiter.

Nah dran am Menschen

„Wir sind nah dran an den Menschen und haben die Zeit, die die Ärzte meist nicht haben“, so Kurtcu. Während ein Arztgespräch durchschnittlich 3 bis 7 Minuten dauere, nehmen die Erstberatungen im Gesundheitskiosk oft 45 Minuten in Anspruch, zudem könnten die Patienten in Folge viel engmaschiger zum Gesundheitskiosk kommen als das bei einer Praxis der Fall ist. „Die Patienten können so ein Vertrauen aufbauen zu uns und es entsteht viel eher die Bereitschaft, selbst mitzuhelfen und aktiv zu werden, um der chronischen Erkrankung entgegen zu wirken“, so Kurtcu. Diese enge Beziehung sei gerade bei Kindern entscheidend – denn „kümmern sich die Eltern hier nicht, gehen die Kinder ansonsten schnell im System verloren.“

Wertvolle Arbeit vor Ort

Gerade und ganz besonders in strukturell schwachen Stadtteilen wie Hamburg Billstedt-Horn ist der Gesundheitskiosk ein großer Gewinn und für viele Patienten lebenswichtiger Begleiter, wie Kurtcu in ihrer Arbeit feststellt. „Es gibt unzählige Erfolgsgeschichten aus unserer Praxis, die wir erzählen können“, so die Leiterin. Da ist der 14-Jährige, die kurz davor waren, Blutdrucksenker nehmen zu müssen, und es geschafft hat, dass sich seine Werte normalisiert haben. Da ist die schwer übergewichtige Patientin Mitte 50, die ihr Gewicht in den Griff bekommen hat. Oder der Senior, der nach einer OP nicht wieder wie sonst ins Klinikum eingeliefert werden musste, weil er im Gesundheitskiosk engmaschig betreut wurde. Darüber hinaus führe die Beratung durch den Gesundheitskiosk zu einer spürbaren Entlastung der Ärzte. „Wir schulen die Selbstkompetenz der Menschen, damit sie nicht bei jeder Kleinigkeit gleich zum Arzt gehen und selbst einschätzen lernen, wann es akut ist“, so Kurtcu. Aus Sicht der Leiterin wäre dabei eine Ausweitung der Aufgaben des Kioskes durchaus noch sinnvoll, etwa auf die Wundversorgung, um die Arztpraxen zu entlasten. In jedem Fall aber stellt sie fest: „Der Gesundheitskiosk wird gebraucht und bewegt etwas – das spüren und sehen wir tagtäglich.“

Kurz zusammengefasst:

  • Gesundheitskioske bieten vor allem in sozial benachteiligten Regionen und Stadteilen eine  niedrigschwellige Beratung an.
  • Die Krankenkassen fördern gemeinsam mit den Kommunen mit Hilfe der Gesundheitskioske die Gesundheitskompetenz von Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf und bieten im Bedarfsfall individuelle Beratung an.
  • Die Kommunen entscheiden eigenständig, ob sie einen Gesundheitskiosk aufbauen wollen und  können von den Krankenkassen den Abschluss eines schiedsamtsfähigen Vertrages über die Einzelheiten verlangen. Ziel ist es, pro 80.000 Einwohner einen Kiosk zu errichten, also bundesweit insgesamt 1.000 Kioske.
  • Sofern eine Kommune einen Gesundheitskiosk initiiert, sind die Landesverbände der Krankenkassen verpflichtet, gemeinsam mit den Kommunen und dem öffentlichen Gesundheitsdienst Kioske zu errichten. Solche Angebote können mobil, etwa mit Bussen, erfolgen. 
  • Da die Kioske auch Aufgaben der Daseinsvorsorge vornehmen, sind die Kassen zur Beteiligung an einem Kiosk nur verpflichtet, wenn sich auch die Kommunen vor allem finanziell an den Kiosken beteiligen.
  • Die Finanzierung wird zwischen den Kommunen  und gesetzlicher und privater Krankenversicherung aufgeteilt. Die gesetzliche Krankenversicherung wird 74,5  Prozent der Gesamtkosten, die private Krankenversicherung 5,5 Prozent und die Kommunen 20  Prozent der Gesamtkosten tragen, so das Bundesgesundheitsministerium

Mehr Informationen zu Gesundheitskiosken und ihrer Finanzierung.

Fotocredits: Gesundheitskiosk Hamburg Billstedt-Horn