Ruth Hartwig-Kruse fährt jeden Tag mit der Schmalspurbahn zum Rathaus von Nordstrand.
Ruth Hartwig-Kruse fährt jeden Tag mit der Schmalspurbahn zum Rathaus von Nordstrand.

Die freie Friesin von Nordstrand

Mit der Lore von der Hallig ins Rathaus - Ruth Hartwig-Kruse fährt jeden Tag mit der Schmalspurbahn nach Nordstrand, um als Bürgermeisterin eine Flächenkommune mit geringen Mitteln zu gestalten. Eine schwierige Aufgabe, die der Friesin trotzdem Spaß macht.

Wenn Nordstrands Bürgermeisterin Ruth Hartwig-Kruse morgens in ihr Büro fährt, legt sie den wohl ungewöhnlichsten Arbeitsweg aller deutschen Bürgermeister zurück: Von der Norderwarft auf Hallig Nordstrandischmoor, wo ihre Familie seit über 300 Jahren lebt, fährt sie mit einer Lore über eine Schmalspurbahn zum Festland. Quietschend und ruckelnd geht es den mehr als drei Kilometer langen Steindamn entlang, der die Hallig mit dem gegenüberliegenden Lüttmoorsiel verbindet. Bei Ebbe fliegen einige Austernfischer davon, bei Flut schlagen die Wellen gegen den Lorendamm. „Wenn ich mit der Lore unterwegs bin, kriege ich wieder einen klaren Kopf“, sagt Hartwig-Kruse. „Dann ist das Festland plötzlich ganz weit weg.“ Und wenn auf der Hallig landunter ist und nur die Warften aus dem Wasser ragen, kann Ruth Hartwig-Kruse nicht in ihr Büro. Es sei denn, sie ist vorsorglich bei ihrer Schwester oder ihren Kindern auf dem Festland geblieben.

Ruth Hartwig-Kruse, Bürgermeisterin von Nordstrand
Ruth Hartwig-Kruse, Bürgermeisterin von Nordstrand

„Ich habe mich vor zehn Jahren in den Gemeinderat wählen lassen“, erzählt Hartwig-Kruse, als sie im Gemeindehaus von Nordstrand angekommen ist. „Mir war wichtig, dass unsere Hallig in der Politik von  Nordstrand  vorkommt.“ Denn seit ihrer Entstehung 1634 gehört die heute von 23 Menschen bewohnte Hallig politisch zum 2.250-Einwohner-zählenden Nordstrand. „Dass es sich jetzt umgedreht hat, und eine von Nordstrandischmoor auf Nordstrand Bürgermeisterin ist, hätte ich nie gedacht.“ Doch nach der letzten Kommunalwahl hatten sich die Mehrheitsverhältnisse in der Gemeinde extrem verändert: Der amtierende ehrenamtliche Bürgermeister verlor seine Mehrheit. Am Ende war die Halligbewohnerin, die hauptberuflich als Nationalparkrangerin arbeitet, die Einzige in ihrer Fraktion mit einer halben Stelle – und hatte damit nach Meinung ihrer Fraktion auch die nötige Zeit für das Bürgermeisteramt. „Also hab ich es gemacht.“ Eine freie Friesin, so nennt sich Hartwig-Kruse manchmal selbst. Die parteilose, für die SPD angetretene Kommunalpolitikerin musste sich zu Anfang an vieles gewöhnen: „Zum Beispiel, dass man auf einmal Chefin von fast 40 Leuten ist“, sagt Hartwig-Kruse. „Das war für mich vorher gar nicht so zu überblicken.“

Bürgermeisterin einer Bedarfsgemeinde

Denn zur Gemeinde gehört auch der Kurbetrieb, ein notorisch defizitäres Unternehmen. 750.000 Euro zahlt die Gemeinde pro Jahr für Schwimmbad und Kurmittelhaus drauf. Nordstrand ist deswegen Bedarfsgemeinde, muss die höchsten Steuersätze nehmen und hängt am Tropf des Landes. Auch die schlechte Refinanzierung vieler Kommunalausgaben macht Nordstrand zu schaffen: In den Kitas zum Beispiel würden die Standards immer höher. Aber die Beiträge des Landes stiegen nicht im selben Maße. „Da würde ich mir schon wünschen, dass man den hohen Standard, den man sich in Kiel überlegt, dann auch bezahlt“, sagt Hartwig-Kruse. Ein Problem ist auch, dass Nordstrand eine Flächengemeinde mit einer großen Streusiedlung ist. „Aber für den Außenbereich gibt es in Schleswig-Holstein kaum noch Baugenehmigungen “, sagt Hartwig-Kruse. „Wer da wohnt, hat große Schwierigkeiten, sich etwas neu aufzubauen.“ Was dazu führt, dass Kinder nicht mehr auf dieselbe Weise leben könnten, wie ihre Eltern. Am Ende würden sie wegziehen. „Und als kleine Gemeinde müssen wir eine Feuerwehr, eine Kita, eine Schule und ein großes Straßennetz unterhalten“, sagt Hartwig-Kruse. „Die Aufgaben sind immens – aber das Land lässt die Kommunen dann oft mit den Finanzen hängen.“

Hartwig-Kruse in Nordstrand

Doch manches ist der Bürgermeisterin und ihrem Gemeinderat in ihrer einjährigen Amtszeit auch schon richtig gut gelungen. Als großen Erfolg sieht es Hartwig-Kruse zum Beispiel, dass ab dem Frühjahr 2020 80 Prozent der Haushalte der Kommune einen Breitbandanschluss erhalten sollen – auch jene auf Hallig Nordstrandischmoor. „Wenn die Sommergäste kommen, freuen sie sich über die schöne Luft, und fragen dann als erstes nach dem WLAN-Code“, sagt Hartwig-Kruse. „Ohne schnelles Internet läuft auch bei uns nichts mehr.“ Als nächstes kämpft sie nun für ein neues Dorfgemeinschaftshaus: Die Gemeinde will ein früheres Kinderheim pachten. Denn die Nordstrander haben kaum Gaststätten, die das ganze Jahr über geöffnet sind. Was bei Beerdigungen zum Problem wird: Traditionell kommen auf  Nordstrand  viele Menschen, wenn einer der ihren zu Grabe getragen wird. Doch die einzige im Winter geöffnete Gaststätte fasst nur 80 Gäste. Auch für den Tanztee des Roten Kreuzes oder für die Versammlungen der Arbeiterwohlfahrt fehlen Räume. „Wir dürfen nicht nur an den Tourismus denken, wir müssen auch an die Menschen denken, die hier leben“, sagt Hartwig-Kruse. „Und da sind wir auf einem guten Weg.“

„Das Talent ist zuzuhören und zu vermitteln“

Als Hartwig-Kruse das Bürgermeisterbüro verlässt, um zurück auf ihre Hallig zu fahren, begegnet sie einem Mitarbeiter des Bauhofs vor dem Gemeindehaus. Man schnackt Platt. Wie eigentlich überall, wo die Bürgermeisterin hinkommt. „Eine Gemeinderatssitzung hat auf Platt zu funktionieren“, sagt sie. „Aber wenn es jemand nicht versteht, sprechen wir natürlich auch Hochdeutsch.“ Die Regionalsprache nutzt Hartwig-Kruse auch bei Besuchen im betreuten Wohnen. Geburtstagsbesuche macht sie gern, wenn noch keine Gäste da sind: Schließlich komme sie ja wegen des Jubilars, sagt die Bürgermeisterin. „Mein schönstes Erlebnis war, als mich eine alte Dame zum Abschied fragte, ob sie die Bürgermeisterin jetzt Ruth nennen dürfe.“ Da überrascht es nicht, wie Hartwig-Kruse auf die Frage antwortet, was eine gute Bürgermeisterin außer Platt noch können müsse: „Das Talent ist zuzuhören und zu vermitteln“, sagt Hartwig-Kruse, während die Lore langsam wieder der heimatlichen Hallig entgegenrumpelt. „Und auch zu wissen, dass man nicht immer Recht hat – man muss auch nachgeben können.“ Denn auch eine Bürgermeisterin ist ohne einen guten Gemeinderat nichts, denn einfach so allein entscheiden - das geht auch für eine freie Friesin nicht.