
Kommentar
„Kulturkümmerer statt Demokratienachhilfekurse“
Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist seit ihren Anfängen davon geprägt, dass sich Bürger im Rückblick auf die Gräueltaten des Nationalsozialismus eines „kulturvollen Handels“ bedienen sollten. Die vielbeschworene Formel vom Land „der Dichter und Denker“ diente dabei weniger dem Ziel eines Neuanfangs als der Abgrenzung vom Land der „Richter und Henker“.
Mit der 68er-Bewegung und den darauffolgenden Schüben von Bürgerbewegungen der 70er, 80er, und 90er Jahre entwickelte sich etwas, das man aus der Retrospektive im französischen Wortsinn als „Volkskultur“, im deutschen eher als Breitenkultur und Basiskultur benennen kann. Es entstanden Stadtteilzentren, Kunstvereine, Musikinitiativen, Umweltverbände, Geschichtswerkstätten und Stadtmuseen.
"Kultur brauchte keine Kümmerer, Kultur hatte Kümmerer"
Mit diesem Prozess einher ging die Etablierung von staatlich und kommunal organisierten oder zumindest begleitenden Kulturveranstaltungen wie Film- und Musikfestivals. Selbst kleine Kommunen integrierten kulturelle Tätigkeiten in ihre Kommunalverwaltungen. Gerade die 80er und 90er Jahre waren davon geprägt, dass das Ausleben von Alltagskultur ein wichtiger Lebensinhalt und nicht nur eine Form beliebiger Freizeitbeschäftigung war. Kultur brauchte keine Kümmerer, Kultur hatte Kümmerer.
Die Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen Ost und West, die durchgreifende Ökonomisierung aller Lebenswelten und die zunehmende Eventisierung von Alltagskultur führten indes in einem „nicht beabsichtigten Zusammenwirken“ zur zunehmenden Erosion kommunaler und regionaler Kulturstrukturen. So wurde – zugespitzt gesagt - der Prozess des Verlustes der Eckkneipe komplementiert durch die Streichung von Zuschüssen für die Laienspieltheatergruppe.
Die "Eventisierung" hat die lokale Kultur verdrängt
Es verschwanden zunehmend sowohl kommerzielle kleine Kinos als auch auf Freiwilligkeit und Ehrenamt beruhende Bürgerhäuser und Gemeinschaftseinrichtungen. Dieser Prozess korrespondierte mit der Abwendung von regionalen Strukturen und der Hinwendung zu inszenierten Erlebniswelten in allen gesellschaftlichen Schichten. Charakteristisch hierfür sind die Besucherzahlen der synthetischen Musicalhäuser wie zum Beispiel des „Königs der Löwen“ in Hamburg, die zu hohen Individualpreisen als Wochenenderlebnis gebucht werden, während die regionalen Theater um ihre Existenz kämpfen müssen.
Unzweifelhaft gestützt wird dieser Prozess durch die Ausgestaltung zentraler Lebensfunktionen im Internet.
Vor diesem Hintergrund und dem zunehmenden Spannungsverhältnis zwischen Staat und Gesellschaft sind allerdings die politischen Versuche, die Breitenkultur an das Ehrenamt zu überantworten mehr als zweifelhaft.
Politik ist für die Kulturförderung gefordert
Sicher ist: Kulturelle Arbeit wäre ohne Ehrenamt nicht möglich. Aber es ist die Forderung an Politik, Kultur nicht nur verbal als substanziellen Bestandteil dieser Gesellschaft zu begreifen, sondern auch real mit einem administrativen und finanziellen Rückgrat zu versehen.
Warum bedarf es der Stärkung und Bewahrung kultureller Institutionen, professioneller Kümmerer und der Aufstellung von Kulturentwicklungsplänen?
- Aufgrund der Flexibilisierung der Gesellschaft und der Möglichkeit der entorteten Berufsausübung via Internet ist die Standortqualität des Wohnortes von entscheidender Bedeutung für die Standortwahl.
Das heißt, die Verhinderung von Bevölkerungsabzug und die Besetzung attraktiver Arbeitsplätze hängt nicht nur mit der „Zurverfügungstellung von Wohnraum“ oder der Gehaltshöhe zusammen, sondern mit der Frage des kulturellen Umfeldes. Kultur ist ein standortbildendes und standortentscheidendes Merkmal. - In dem Menschen kulturell schaffend tätig sind, verändern sie aktiv ihr soziales Umfeld. Das heißt diejenigen, die sich aufgrund attraktiver kultureller Rahmenbedingungen für einen Wohnort entschieden haben, entwickeln selbst wieder Aktivitäten, um bewusst und unbewusst für nachfolgende die Rahmenbedingungen weiter zu verbessern.
- Auch wenn viele Mitbürger gerne zum „König der Löwen“ fahren, besteht doch das steigende Bedürfnis auch das eigene Zuhause und sein Umfeld als einen „besonderen Ort“ begreifen zu können. Und dies meint nicht die Ausstattung des Wohnzimmers sondern die Zuordnung zu Umfeldern: Authentische historische Orte, intakte Naturensembles, musikalische oder sonstige Inszenierungen in „heimischer Umgebung“.
- Das kulturelle Potential und der pflegliche Umgang mit demselben, bilden das Rückgrat neuer Wertschöpfung. Sie sind nämlich die Grundlage der touristischen Vermarktung, zumindest dann, wenn es sich nicht um Centerparks oder künstlich beschneite Skipisten handelt. Gerade hier sind kulturelle Kümmerer notwendig, um eine Balance zwischen der Ökonomisierung von Lebensräumen und der bürgerschaftlichen Nutzung zu gewährleisten.
- Kultur schafft Identität. Die sogenannten seelenlosen Betonwüsten der Vorstädte sind die Indizien für eine gegenteilige Entwicklung. Die achtlose Vernachlässigung gewachsener kulturräumlicher Beziehungen führt ganz automatisch zum Verlust von gesellschaftlichen Bindeklammern.
Entsolidarisierung und nationalen Egoismen ein Gegengewicht bieten
Gerade in Zeiten zunehmender Entsolidarisierung der Gesellschaft und vor dem Hintergrund wachsender nationaler Egoismen ist es für demokratische Gesellschaften angeraten, der „eigenen Kultur“ den Rücken zu stärken und dies meint explizit einen internationalen Kulturbegriff.
Unter anderem Kulturhäuser, Museen und Volkshochschulen sind seit Jahrzehnten im Prozess der Demokratiebildung und der gesellschaftlichen Teilhabe verlässliche Foren des gesellschaftlichen Diskurses.
Diese gewachsenen Strukturen im Rahmen der Haushaltskonsolidierung von Ländern und Kommunen zu zerschlagen und gleichzeitig Erosionsprozesse der Gesellschaft durch „staatliche Demokratienachhilfekurse“ zu flankieren ist absurd und weder nachhaltig noch zukunftsfähig.
Gerhard Lenz ist Geschichtswissenschaftler und Soziologe. Von 2012 bis 2024 war er Museumsleiter des „Weltkulturerbe Bergwerk Rammelsberg“ und Direktor der UNESCO Welterbe-Stiftung „Bergwerk Rammelsberg, Altstadt von Goslar und Oberharzer Wasserwirtschaft“. Nach langjährigen Tätigkeiten als Abteilungsleiter bei der Stiftung „Bauhaus Dessau“, Direktor des „Hessischen Braunkohle-Bergbaumuseums" und stellvertretender Vorsitzender des „Hessischen Museumsverbandes“ ist er seit Frühjahr 2024 im Ruhestand und als „Senior Berater“ im Kulturmanagement tätig.