Kommunen haben Zukunft. Ein Gedankenspiel.
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Gedankenspiel

Wie Stadterneuerung funktionieren kann

Unser Gastautor nimmt Sie mit in die fiktive Kommune „Ort am See“. Die Herausforderung: Menschen, die nach 1980 geboren wurden und weggezogen sind, zurückzugewinnen und neue Einwohner hinzu zu gewinnen. Jürgen M. Boedecker skizziert vor allem, welche kommunikativen Chancen Kommunen dabei haben.

„Lasst uns doch aus Bahnhofsumfeld und Bahnhofstraße einen zeitgemäßen städtischen Dorfplatz machen.“ Als André diesen Vorschlag im Frühjahr 2021 in der Lenkungsgruppe präsentiert, stutzen Bürgermeister Matthias und die übrigen Fraktionsvorsitzenden im „Ort am See“ zunächst. Seit einem guten halben Jahr treffen sie sich, um gemeinsam die integrierte Erneuerung ihrer Kleinstadt in peripherer Lage zu koordinieren. Insbesondere wollen sie mit dem Versprechen von Wohlstand und Lebensqualität die Zahl der Rück- und Zuzüge aus den nach 1980 geborenen Generationen steigern.

Kommunikation ist der große Wurf - so gelingt Stadterneuerung 

Schon früh plante die Runde, das historische Stadtzentrum mit einer gemischten Nutzung wieder zu Aushängeschild und Herz ihrer Kleinstadt zu machen. Quasi als Gegenentwurf zu der durch Komplexität und Anonymität geprägten Metropole sollen sich die Menschen dort treffen und kennenlernen, zwanglos miteinander kommunizieren und interagieren können. Doch verstärkt durch die Corona-Pandemie geht die Entwicklung zunächst in eine andere Richtung; etwas frustriert hat einer der Fraktionsvorsitzenden den „Ort am See“ bereits mit einem Donut verglichen: „Ein relativ dicker Rand, aber nichts in der Mitte.“

Darum hat Andrés Idee zur städtebaulichen Erneuerung des Ortszentrums besonderen Reiz. Der Begriff „städtischer Dorfplatz“ scheint auch wegen seiner Widersprüchlichkeit generationsübergreifend zu begeistern. Er lässt kommunikatives Potenzial erkennen, um Unterstützer und Mehrheiten für die erforderliche Stadterneuerung zu gewinnen und die Persönlichkeit der Kleinstadt erlebnisorientiert zu profilieren. „Das kann der große Wurf werden“, bemerkt dann auch Bürgermeister Matthias. „Also, packen wir es gemeinsam an.“

Rückblickend war der „Ort am See“ durch Bau von Bahnstrecke und Bahnhof zum Ende des 19. Jahrhunderts schnell wirtschaftlich aufgeblüht und gewachsen. Die Bahnhofstraße wurde damals zur führenden Geschäftsstraße der Kleinstadt. Obwohl der allgemeine Strukturwandel diese Entwicklung gut 100 Jahre später umdrehte, ist der Bahnhof als Haltepunkt für Züge und Buslinien noch immer Verkehrsknoten in der Region. Gemeinsam mit den beiden am anderen Ende der Bahnhofstraße gelegenen Verbrauchermärkten und einem medizinischen Versorgungszentrum schafft er Fußgänger- und Radfahrerfrequenz. Jedoch fehlen Grün und Sitzgelegenheiten in der vor einigen Jahrzehnten autogerecht umgestalten Straße. Nur selten halten Menschen an, um sich länger miteinander zu unterhalten.

Und die Zukunft? Stadterneuerung als einmaliges Projekt? 

Kann die Zukunft attraktiver sein? - Für Andrés Idee von einem städtischen Dorfplatz spricht, dass die Bahnhofstraße keine offizielle Ortsdurchfahrt ist. Wahrscheinlich lässt sie sich daher für den Durchgangsverkehr sperren. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit der verbleibenden Fahrzeuge kann deutlich reduziert werden. Der vorhandene Straßenraum ist anders aufzuteilen, um Platz für öffentliche Sitzmöglichkeiten, Grün und Gastronomie zu schaffen. „Insbesondere für Fußgänger entstehen mehr Sicherheit und Komfort“, fasst André zusammen. „Zudem sind auf den Brachflächen im Bahnhofsumfeld weitere nichtkommerzielle Erlebnisangebote möglich. Insgesamt steigt die Aufenthaltsqualität.“

Während sich einige in der Lenkungsgruppe von der Begeisterung für ein „gemeinsames Wohnzimmer“ schnell mitreißen lassen, überwiegt bei anderen noch die Skepsis. Am Ende eint jedoch, dass mit der Umgestaltung von Bahnhofsumfeld und Bahnhofsstraße viel kommunikatives Potenzial verbunden ist. Dieses wird mit Blick auf perspektivisch rückläufige Erwerbstätigen- und Einwohnerzahlen im „Ort am See“ dringend benötigt. „Es bleibt keine Zeit für langwierige Planungen“, fasst Lana das allgemeine Gefühl zusammen. „Wir sollten einfach pragmatisch beginnen und zeigen, dass sich die Zukunft gemeinsam gestalten lässt. Mit jedem Teilerfolg werden Vertrauen und Unterstützung für das Konzept zur Stadterneuerung stärker.“

Kurzfristig lädt Bürgermeister Matthias daher alle Grundeigentümer, Erbbauberechtigten, Gewerbetreibenden und Freiberufler im Umfeld von Bahnhof und Bahnhofstraße zur hybriden Informationsveranstaltung ein. Teilnehmen wollen auch die meisten anderen aus der Lenkungsgruppe, Wirtschaftsförderer und Tourismusverein. Geplant ist die Veranstaltung als „Kick-off“ für eine koordinierte Zusammenarbeit aller Innenstadtakteure im Umfeld des geplanten Dorfplatzes. Erste konkrete Aktivität soll ein befristeter Verkehrsversuch mit entsprechend abgestimmten Sondernutzungen öffentlicher Flächen sein. Darauf aufbauend ist eine private Initiative zur Stadtentwicklung vorgesehen.

Stadterneuerung und Bürgerbeteiligung 

In der gut besuchten Informationsveranstaltung stellt Bürgermeister Matthias zunächst Notwendigkeit und Ziele der Stadterneuerung sowie das Konzept des Verkehrsversuchs vor. Schnell zeigen sich in der folgenden Diskussion erste konkrete Umsetzungsideen. Natürlich wollen Bäcker und Schlachter durch Sondernutzungen ihr gastronomisches Angebot erweitern. Einzelhändler würden gern Verkaufsständer an die Straße stellen. Auch die Möblierung der Straße mit einheitlichen Pflanztrögen, privaten Bänken und Blumenkübeln wird zum Thema. Originell erscheint, mit Holzbohlen und Sand einen Boule-Platz anzulegen und vor dem Bahnhof für Wartende Telefonzellen als Bücherschränke aufzustellen.

Da sich unmöglich alle Vorschläge sofort aufgreifen lassen, übernimmt eine Mitarbeiterin des Bauamts die weitere Koordination; sie ist allgemeine Ansprechpartnerin und Schnittstelle zur Verwaltung. Auch bei Immobilieneigentümern und Gewerbetreibenden bildet sich eine erste informelle Organisation, die unter anderem die gemeinsame Beschaffung von Material übernimmt. „Theoretisch lässt sich im gültigen rechtlichen Rahmen jede Idee testen“, stellt dann auch André fest. „Am besten übernimmt immer eine überschaubare Gruppe die konkrete Umsetzung.“

Noch Jahre später schmunzeln einige der Beteiligten, wenn sie sich an die Anfänge ihres städtischen Dorfplatzes erinnern: Letztlich war der Verkehrsversuch mit mehrmals optimierter Fahrbahnführung, Verteilung von Ausweichflächen und Halteraum erfolgreich. Er legte die Basis für den Umbau der Bahnhofstraße, der mit Mitteln aus der Städtebauförderung unterstützt wurde. Auch im Bahnhofsumfeld griff das Konzept, in kleinen Gruppen Ideen zu entwickeln, zu realisieren und bedarfsweise zu optimieren. Dazu ließen sich über soziale Medien und andere Kommunikationskanäle auch Anspruchsgruppen aus anderen Stadtteilen erfolgreich einbinden.

Ergebnisse sind beispielsweise ein Kinderspielplatz mit funktionsfähiger Schwengelpumpe, ein Basketballfeld und ein Naschgarten. Familien spielen gemeinsam Tischtennis. Menschen aller Generationen halten sich gern in Bahnhofsumfeld und Bahnhofstraße auf und treffen dort andere. Auch Bewohner der Umlandgemeinden verbinden Einkauf oder Arzttermin im „Ort am See“ mit einem Besuch des städtischen Dorfplatzes.

Dessen Attraktivität wächst durch private Stadtentwicklung und Investitionen in den Immobilienbestand. Ein besonderer Schritt gelingt anlässlich eines runden Geburtstags von André: Mit Unterstützung von dessen Freunden und Bekannten erhält der städtische Dorfplatz eine traditionelle Winterlinde als Treffpunkt, um sich kennenzulernen und zwanglos miteinander zu kommunizieren.

Auch von Jürgen M. Boedecker