Saal der Anlaufstelle in Nürnberg für Flüchtlinge aus der Ukraine
Vor dem morgendlichen Ansturm: Der Saal der Anlaufstelle in Nürnberg für Flüchtlinge aus der Ukraine.
© Andreas Franke/Stadt Nürnberg

Interview

Ukraine-Flüchtlinge: So klappt die Organisation

In Nürnberg leben bereits 4200 Ukrainer. Wie die bayerische Partnerstadt von Charkiw die Unterkünfte für die dazukommenden Kriegsvertriebenen organisiert – und womit sie im Krisenmanagement gute Erfahrungen hat, erläutert Andreas Franke vom Koordinierungsstab im KOMMUNAL-Interview.
Aktualisiert am 22. März 2022

KOMMUNAL: Herr Franke, wie gut war Nürnberg auf die Ankunft von Flüchtlingen aus der Ukraine vorbereitet?

Andreas Franke: Wir waren sehr gut vorbereitet. Das hat viele Gründe. Hier in Nürnberg sind wir ein eingespieltes Team. Die Hilfsorganisationen bilden eine Arbeitsgemeinschaft unter Federführung des Bayerischen Roten Kreuzes. Bei der jetzigen Herausforderung helfen uns viele Erfahrungen: aus der Zeit der Fußballweltmeisterschaft 2006 und der Flüchtlingskrise 2015. In den zwei Corona-Jahren haben wir ebenfalls stark miteinander kooperiert. So gelang es, für die Ankömmlinge aus der Ukraine innerhalb von nur zwei Tagen mit dem Internationalen Haus eine Anlaufstelle in der Innenstadt zu schaffen.

Was haben Sie noch in kurzer Zeit organisieren können?

Als Russland den ersten Angriff auf die Ukraine startete, trat die städtische Koordinierungsgruppe Flüchtlinge zusammen. Sie wurde aus der Führungsgruppe Katastrophenschutz in der Corona-Pandemie gebildet. Wir haben auch eine Servicehotline eingerichtet. Dort gingen schon am ersten Tag Hunderte von Anrufen ein. Schnell stellte sich heraus: Die städtischen Mitarbeiter aus dem Sozialamt brauchen Verstärkung. Die Hotline ist sieben Tage die Woche von 10 bis 18 Uhr geschaltet.

Wie ist die Anlaufstelle organisiert?

Unsere Anlaufstelle ist täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet. In dem großen Saal berät das Sozialamt die Flüchtlinge, es gibt eine sozialpsychologische Betreuung, das BRK hat Sanitäter und einen Arzt bereitgestellt. Viele Menschen brauchen Medikamente, eine Frau hatte zum Beispiel kein Insulin mehr. Ukrainisch- und russischsprachige Helferinnen lotsen die Menschen zu den Info-Inseln. Die Dolmetscher postieren sich gleich am Eingang. Die Menschen erhalten unser Begrüßungspaket für Neubürger, mit Gutscheinen für den Zoo und den Besuch im Schwimmbad. Weil sie eine schwere Reise hinter sich haben, bekommen sie auch Taxi-Gutscheine, um zu ihrer Unterkunft zu kommen.

Was ist mit Kleidung?

Auch dafür erhalten sie in der Anlaufstelle Gutscheine. Sie können damit im nahegelegenen BRK-Laden bekommen, was sie brauchen. Sie erhalten zudem Einkaufs-Gutscheine für einen Supermarkt und Scheine für die Essensausgabe der Tafeln. Damit die große Hilfsbereitschaft der Menschen für die Hilfsorganisationen nicht zum organisatorischen Alptraum wird, ist die Koordination alles. Die Sachspenden werden im Innenhof abgegeben, Ehrenamtliche sortieren dann alles.

Andreas Franke Nürnberg
Andreas Franke, Sprecher der Stadt Nürnberg

Wo wenden sich die Menschen hin, die abends oder nachts ankommen?

Die Polizei bekam von uns zum Verteilen ein zweiseitiges Merkblatt, das den Menschen auf Deutsch und Ukrainisch erläutert, wo sie die Anlaufstelle finden. Wer nicht bei Freunden oder Verwandten unterkommt und eine Unterkunft braucht, der bekommt von der Polizei Informationen, wo er übernachten kann.

Welche Unterkunftsmöglichkeiten haben Sie geschaffen?

Viele Kriegsvertriebene haben in Nürnberg Bekannte, Freunde, Verwandte. Bei uns leben 4200 Ukrainer, die hervorragend integriert sind und sich sehr mit unserer Stadt identifizieren. Wir haben auch eine starke russische Community. Die meisten von ihnen sind schon lange hier, sie kamen in den 1990er Jahren. Über das Internet wurden viele Kontaktdaten weitergegeben – auch wenn die Menschen sich gar nicht kennen. Die Hilfsbereitschaft in der Nürnberger Bevölkerung ist überwältigend. Nach dem Ausbruch des Kriegs boten Menschen an: Wir räumen ein Zimmer frei. Ein privates Wohnungsbauunternehmen stellt 12 gerade fertiggestellte Wohnungen zur Verfügung. In der Anfangsphase stehen rund 200 Unterbringungsmöglichkeiten in Hotels bereit, darunter auch Appartements. Wir halten auch eine Turnhalle für den Notfall vor. Mittlerweile läuft die Unterbringung auch über die Zentrale Erstaufnahmestelle in Zirndorf.

Wer bezahlt die Unterbringung?

Wir gehen als Kommune erst einmal in Vorleistung. Für uns war klar: Wir wollen den Menschen sofort helfen und haben einfach losgelegt.

Wie lange können die Menschen bleiben?

Generell gilt: Wer aus der Ukraine einreist, kann 90 Tage ohne Visum in Deutschland bleiben, der Aufenthalt kann auf 180 Tage verlängert werden. Die EU will jetzt den Paragrafen 24 des Aufnahmegesetzes aktivieren. Er sieht zum Beispiel ein Bleiberecht bis zu drei Jahren vor, dass die Menschen arbeiten dürfen oder Sozialhilfe bekommen. Wer schon jetzt regelmäßige finanzielle Hilfe in Anspruch nehmen will, muss sich bei der zentralen Aufnahmeeinrichtung melden, die ist in unserem Fall in Zirndorf. Von dort werden die Menschen dann auf die Kommunen verteilt.

Wie regeln Sie den Kita- und Schulbesuch?

Wir werden in Nürnberg Kita-Plätze und Schul-, sowie Hortplätze bereitstellen. Grundsätzlich wird es an den bayerischen Schulen und damit auch in Nürnberg Willkommensklassen geben. Die Schülerinnen und Schüler werden dann als Gastschüler auf die jeweiligen Schulen verteilt. Je nach Sprachkenntnissen können die ersten Kinder auch gleich in den regulären Unterricht integriert werden. Bisher sind etwa 100 Flüchtlingskinder aufgenommen. Auch gibt es erste neue Berufsschüler aus der Ukraine. Die Stadt hat in dieser Woche eine muttersprachliche Schulberatung für Geflüchtete eingerichtet. Unser Schulinstitut hat zudem eine Material- und Linksammlung zusammengestellt rund um das Thema Ukraine, sie richtet sich vor allem an Lehrkräfte. Derzeit kümmert sich ein Team darum, aus dem Kreis von muttersprachlichen Ehrenamtlichen und Geflüchteten potentielle Helfer und Lehrkräfte zu finden.

Seit 1990 ist Charkiw die zweitgrößte Stadt der Ukraine, Partnerstadt von Nürnberg. Sie wurde stark beschossen. Wie ist der Kontakt derzeit?

Wir haben eine sehr lebendige Städtepartnerschaft, 1993 haben Bürger den Partnerstadtverein Charkiw-Nürnberg gegründet, zwei Jahre später wurde das Nürnberger Haus in Charchiw eröffnet, ein Bildungszentrum, das an das Goethe-Institut angedockt ist. Dort werden Sprachkurse gegeben, Seminare, Lesungen. Wir sind derzeit über e-mail, whatsapp und twitter in Kontakt, Telefonate kommen leider nicht zustande. Der Partnerschaftsverein hat ein Spendenkonto eingerichtet.

Wie reagiert die russische Community in Nürnberg?

Es gibt dort bei weitem nicht nur Putin-Versteher. Die meisten Menschen mit russischer Herkunft sind über den Angriff auf die Ukraine genauso entsetzt wie wir alle, viele bieten ihre Hilfe an.

Was raten Sie anderen Kommunen?

Mein Tipp ist: Schafft eine Anlaufstelle, bei der die Menschen erste Unterstützung bekommen und möglichst viele Ansprechpartner finden. Und versucht, die Hilfsangebote zu bündeln. Es sollten nicht zu viele Einrichtungen Sachspenden annehmen. Was sich für uns vor allem bewährt hat, ist die frühzeitige Koordinierung und erfolgreiche Netzwerkarbeit.

Mehr Informationen über das von Nürnberg geschnürte Hilfspaket.

Fotocredits: Andreas Franke Christine Dierenbach/Stadt Nürnberg