Abgespeckte Weihnachten? Was Kommunen tun können, damit die Stimmung nicht kippt
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Leitartikel

Corona-Krise: Hilfsangebote für Betroffene statt Befehle von oben

Ebenso dringend wie einen Impfstoff gegen Corona brauchen wir einen Impfstoff für mehr Eigenverantwortung. Bund und Länder kaschieren ihre Überforderung mit Strenge. Wenn die Kanzlerin Alarm ruft, hyperventilieren aber glücklicherweise nicht alle Kommunen mit. Tübingen etwa geht vorbildlich voran, meint Christian Erhardt.

Ich hätte nie gedacht, dass ich an dieser Stelle noch mal ausgerechnet Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer ausdrücklich loben würde. Zu sehr war er bei mir spätestens seit seinem Versuch, das Baugebot auf sagen wir „abenteuerliche Weise“ zu interpretieren, im Kopf unter „Bevormunder“ abgespeichert. Gut, wenn man sich traut, seine Meinung auch mal zu revidieren. Denn das Gegenteil von Bevormundung macht der umtriebige Oberbürgermeister gerade in der Corona-Pandemie. Er setzt lobenswerterweise auf mehr Eigenverantwortung der Menschen in der Krise. Und macht als Stadtoberhaupt das, was eine Kommune machen kann, wenn von Bundes- und Landespolitik seit Monaten nur noch „Zwangsmaßnahmen“ kommen: Er organisiert in seiner Stadt einen Parallelverkehr zum Bus mit Taxis für Risikogruppen, er weist ein spezielles Zeitfenster zum Einkaufen für Risikogruppen aus, setzt auf konsequente Tests in Pflegeheimen und bietet Risikopatienten beitragsfrei medizinische Schutzmasken an. Chapeau!

Corona-Krise nicht mit einer Mischung aus Großalarm und kleinkarierten Regeln begegnen 

Während Bund und Länder uns Befehle erteilen, macht der Kommunalpolitiker den Betroffenen konkrete Hilfsangebote. Er definiert damit deutlich, was Staatsaufgabe und was Privatsache ist. In einer Demokratie sind viele existenzielle Entscheidungen über Leben und Tod, Wohnsitz oder Berufswahl eben zunächst Privatsache. In der Corona-Krise heißt das: Wer Abstand hält und Kontakte vermeidet hat ein weit geringeres Risiko, als jemand der auf Partys geht oder sich mit vielen Menschen trifft. Wer sein Zuhause verlässt, egal ob jung oder alt, ob Risikogruppe oder nicht, geht eben ein freiwilliges Risiko ein. Das gilt grundsätzlich. Er kann auch im Straßenverkehr von einem Auto angefahren oder von einem Gerüst erschlagen werden. Eine Vollkasko-Versicherung für das Leben gibt es nicht. Niemand würde auf die Idee kommen, Rauchen oder trinken per Gesetz komplett zu verbieten. Auch Fettleibigkeit, die inzwischen häufigste Ursache für Todesfälle, ist nicht strafbar, sondern Teil der persönlichen Lebensführung. Wichtig ist nur, dass die Menschen ausreichend über die Risiken informiert werden – genau das ist staatliche Aufgabe. Die Diskussion über Lebensmittel-Ampeln und Kennzeichnungspflichten etwa zeigt, wie wir an anderer Stelle damit umgehen.



Doch in der aktuellen Krise fehlt dieser kühle Kopf häufig: Fitness-Studios, die das Immunsystem stärken und Fettleibigkeit verhindern können, werden geschlossen. Obwohl die große Mehrheit der Ansteckungen haushaltsbasiert sind, werden Restaurants und Kulturstätten geschlossen. Einrichtungen, die für viel Geld und mit viel Enthusiasmus in den vergangenen Monaten extrem hochwertige Hygienekonzepte erstellt haben, werden dicht gemacht. Ergebnis: Die Menschen treffen sich zu Hause, an Orten ohne Hygienekonzepte. Oberbürgermeister Boris Palmer setzt dieser Verbotskultur konkrete Hilfsangebote entgegen.  

Wen der Staat in der Corona-Krise wirklich schützen muss 

Trotzdem hat der Staat natürlich in der Pandemie eine Schutzaufgabe. Die öffentliche Aufgabe besteht etwa darin, Altenpfleger zu schützen, die täglich Kontakt mit Menschen und gar Infizierten haben und auch Bettlägrige, etwa in Seniorenheimen oder Krankenhäusern. Der Staat muss also diejenigen schützen, die sich selbst nur schwer oder gar nicht schützen können. Genau das macht Tübingen mit Schnelltests, Schutzkleidung und Hilfsmitteln. Weitere Punkte wären bauliche Maßnahmen oder eine intelligente Datennutzung. Es ist ein Trauerspiel, dass Deutschland die wohl teuerste Corona-Warn App der Welt hat und gleichzeitig eine der uneffektivsten. Noch immer sind zahlreiche Gesundheitsämter nicht digital angebunden. Weil der Bund die Macher vor Ort in den Kommunen wieder mal „vergessen“ hat. Die Regierung stellt sich ein Armutszeugnis aus, wenn Standort-Dienste per GPS in der Warn-App nicht möglich sind, Hinweise zum nächsten Testzentrum ebenso wenig eingebunden werden wie Online-Terminvergaben oder eine Verknüpfung mit anderen lange bestehenden Warn-Apps. Da wäre staatlicher Handlungsbedarf, bevor man eine ganze Gesellschaft und sein Wirtschaftssystem in ein künstliches Koma nach dem anderen versetzt.

Um es aber auch klar zu sagen: Bei Weitem nicht alle Maßnahmen, die Bund und Länder ergriffen haben, sind falsch. Für die Diskussion, was persönliches Risiko und persönliche Lebensführung ist und wo der Staat mit Zwangsmaßnahmen eingreifen muss, hat uns Boris Palmer aber ein gutes Beispiel geliefert, wie Alternativen aussehen können. Auch er kann und will in Tübingen ja die Kontaktbeschränkungen nicht außer Kraft setzen, er hat den Zwangsmaßnahmen aber weitere Angebote an die Seite gestellt. Dass diese Sinn machen, hat er ebenfalls bewiesen. So sind rund um Tübingen die Corona-Zahlen in Seniorenheimen jüngst drastisch gestiegen. Seit er konsequent Personal testen lässt und medizinische Masken verteilt, gab es in Tübingen selbst keinen einzigen Ausbruch mehr!

Ich wünsche mir für die weiteren harten Monate, in der wir weiter mit der Corona-Pandemie leben müssen, dass Bund und Länder ihre Mischung aus Großalarm und kleinkarierten Regeln aufgeben und den Kommunen und Bürgern endlich mehr Eigenverantwortung zutrauen!