"Fachkräftemangel ist zum Modewort für alle Probleme auf dem Arbeitsmarkt geworden", meint Christian Erhardt und stellt der These Zahlen entgegen
"Fachkräftemangel ist zum Modewort für alle Probleme auf dem Arbeitsmarkt geworden", meint Christian Erhardt und stellt der These Zahlen entgegen
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Leitartikel

Das bequeme Märchen vom Fachkräftemangel

Qualifizierte Mitarbeiter wachsen nicht auf Bäumen, passendes Personal per 3D-Drucker bleibt glücklicherweise auch utopisch. „Realität hingegen sind eine sich selbst blockierende Nation und das Wort Fachkräftemangel, das nicht weniger ist als eine Ausrede für die Fehler einer verfehlten Personalpolitik“, meint Christian Erhardt.

Fachkräftemangel ist zum Modewort für alle Probleme auf dem Arbeitsmarkt geworden. Keine Frage, auch und vor allem im öffentlichen Dienst werden händeringend Mitarbeiter gesucht. Beispiel Pflege: 500.000 Fachleute dürften bald in Deutschland fehlen. Die Philippinen haben sich derweil auf die Pflege spezialisiert, deutsche Aufsichtsbehörden machen ihr Kommen aber oft unmöglich. „Vergleichsgrundlage für Ausbildungen, die im Ausland erworben wurden“, nennt sich das im Regelwerk. Und das besagt, dass die Philippiner in ihrem Studium nur rund 1800 Stunden in der praktischen Ausbildung verbringen – vorgeschrieben sind bei uns rund 2500 Stunden. Und so suchen sich die Fachkräfte lieber Stellen in ohnehin meist besser zahlenden Ländern wie Kanada oder Australien, wo sie mit Kusshand genommen werden.

Ganz ähnlich sieht es in den Schulen aus. „Quereinsteiger“ ist das Zauberwort. Aber jemand, der Betriebswirtschaft oder Ingenieurwissenschaften studiert hat, dem fehlen eben Staatsexamen und Referendariat. Wo kämen wir denn hin, wenn wir Menschen aus der Praxis auf unsere Kinder loslassen würden? Und was, wenn die wohlmöglich noch Freude an ihrem neuen Beruf haben?

Fachkräftemangel ist oft ein vorgeschobener Grund 

Diese beiden Beispiele zeigen, wie sehr wir uns selbst blockieren. Denn, wer so agiert, hat entweder kein Fachkräfteproblem oder blockiert sich komplett selbst. Wie groß etwa an Schulen das Fachkräfteproblem wirklich ist, darüber lässt sich ohnehin streiten. Die Zahl der Schüler ist in den vergangenen Jahren um fünf Prozent gesunken, die Zahl der Lehrer im gleichen Zeitraum um fünf Prozent angewachsen. Im öffentlichen Dienst stieg die Zahl der Bediensteten in den vergangenen fünf Jahren um rund sechs Prozent. Völlig richtig, die Menge an Tätigkeiten - diverse Verordnungen von Bund und Ländern lassen grüßen - werden immer mehr. Aber vielleicht liegt das eigentliche Problem ja genau hier. An den fehlenden Mitarbeitern kann es eigentlich nicht liegen. Und das gilt in fast allen Branchen. Schauen wir uns die Zahlen an: In Deutschland gab es noch nie so viele sozialversicherungspflichtig Beschäftigte wie im Moment. Wie kann es also sein, dass unsere Behörden und Unternehmen trotz angeblicher Rationalisierung und Digitalisierung immer mehr Menschen brauchen, wenn gleichzeitig – die Angst vor der Rezession lässt grüßen – gar nicht mehr Produkte und Dienstleistungen erstellt werden? Brauchen wir also wirklich immer mehr Mitarbeiter oder fehlt es uns einfach an Innovationen?

Und weiter: Können wir uns diesen Luxus der Ineffizienz noch leisten? Klar ist doch: Wenn in den nächsten Jahren die geburtenstarken Jahrgänge millionenfach in Rente gehen, werden wir mit deutlich weniger Menschen auf dem Arbeitsmarkt auskommen müssen. Der Fachkräftemangel, den wir heute bejammern, er wird erst noch kommen! 

Die Leier vom Fachkräftemangel lenkt von den eigentlichen Problemen ab

Im Moment gilt aber noch: Die Mitarbeiter fehlen nicht, sie arbeiten nur woanders! Oder sie arbeiten aus irgendwelchen Gründen in Teilzeit oder gar nicht. Die Experten melden 1,7 Millionen offene Stellen und exakt genauso viele Dauerarbeitslose. Auffallend ist: Je schlechter das Arbeitsklima und die Bezahlung in einer Behörde oder einem Unternehmen, desto größer ist der beklagte Mangel an Arbeitskräften. Der Familienvater mit zwei Kindern, der je nach Region beim Bürgergeld auf rund 2400,- Euro netto kommt, überlegt sich zweimal, ob er eine ähnlich bezahlte Tätigkeit annimmt, wenn sie ihn nicht erfüllt. Die Teilzeitkraft, deren Nettogehalt bei Verdopplung ihrer Stundenzahl sich um ein Drittel erhöht hat wenig Anreize, aufzustocken. Die dauernde Leier vom Fachkräftemangel ist also eher ein Märchen oder auch eine Schutzbehauptung, um von den eigentlichen Problemen abzulenken.

Die Antwort muss heißen: Wir brauchen bessere Chefs, bessere Arbeitsbedingungen und effizientere Arbeitsabläufe. Wir haben uns zu lange an der Vorstellung „Zeit gegen Geld“ festgehalten. Diese Zeit ist vorbei. Früher sind Mitarbeiter für mehr Gehalt auf die Straße gegangen. Heute kündigen viele Mitarbeiter einfach! Sie wechseln zu einem anderen Unternehmen oder einer anderen Behörde. In Unternehmen, die bessere Arbeitsbedingungen bieten. Wer heute unzufrieden ist, geht zunächst in die Passivität, „Müßiggang als Akt des Widerstands“ lässt sich das umschreiben, früher sprach man von „innerer Kündigung“. Mitarbeiter mit Potential finden nach dieser Phase heute schneller eine neue Herausforderung und kündigen dann. Zumeist nennen sie als Grund für den Wechsel eine bessere Wertschätzung.

Fachkräftemangel

Die Bereitschaft zum Arbeiten ist da - wenn die Arbeit denn sinnvoll erscheint 

Gut erklären lässt sich das am Beispiel des Ehrenamts. 40 Prozent der Deutschen sind in irgendeiner Form ehrenamtlich tätig, ohne Geld dafür zu erwarten. Sie machen das aber nur so lange, wie sie in der Tätigkeit einen Sinn sehen und ihr Handeln positive Folgen hat. Obwohl die Arbeit nicht vergütet wird, wird sie als persönliche Bereicherung wahrgenommen. Freiwilliges Engagement erfüllt also oft ein Sinnbedürfnis. Genau das erwarten Arbeitnehmer heute auch von ihrem Arbeitsplatz.

Für Arbeitgeber liegt in diesem Wissen eine riesige Chance. Denn wer – etwa über das Ehrenamt – verschiedene Dinge tut, kann seine Arbeit auch besser reflektieren, hat einen differenzierteren Blick auf seine Tätigkeiten, kann auf ein breiteres Repertoire an Problemlösungsstrategien zurückgreifen. Weshalb Menschen, die ehrenamtlich tätig sind, häufig auch die besseren Arbeitnehmer sind. Nur erwarten gerade diese Menschen, dass sie auch die Zeit und die nötigen finanziellen Möglichkeiten bekommen, diesem Ehrenamt auch gewissenhaft nachzugehen. Studien zeigen seit langem, dass sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer von einer Reduzierung der Wochenstundenzahl profitieren. Längst ist belegt, dass die Reduktion nicht zu einem Produktivitätsverlust führt sondern meist sogar eine Effizienzsteigerung bewirkt.

Was wir brauchen ist also nicht das verlogene Märchen vom Fachkräftemangel, sondern eine – um neudeutsch zu sprechen – Zeitenwende bei den Arbeitsbedingungen. Vorgesetzte müssen endlich verstehen, dass das Verständnis von Arbeit sich in den vergangenen zehn Jahren komplett umgekrempelt hat.