
Kommentar
Digitalisierung: Europa muss in disruptive Technologien investieren
Digitalisierung ist die neue Infrastruktur für Bürgernähe, Bürokratieabbau, wirtschaftliche Dynamik und Zukunftsfähigkeit. Ein digitaler Staat und eine digitale Verwaltung sind die Grundlage für die Nutzung neuer transformatorischer Technologien wie der Künstlichen Intelligenz. Europa lebt heute digital zur Untermiete. Unser Vermieter sind die Vereinigten Staaten von Amerika und Plattformen, deren Eigentümer in Kalifornien im Silicon Valley sitzen. Beide, die USA wie die digitalen Superfirmen, ändern gerade radikal die Spielregeln. Europa sollte jetzt radikal digital aufrüsten und sein Gesellschaftsmodell verteidigen. Die digitale Souveränität wird zur Voraussetzung von politischer Souveränität.
Digitalisierung als Fundament für Europas Zukunft
Digitale Dienstleistungen waren in den letzten 20 Jahren der wichtigste Treiber für Wachstum und Wohlstand in der Welt. Mit einem Überschuss von fast 300 Milliarden US-Dollar bei den Services gehören die USA und ihre Tech-Konzerne zum größten Gewinner dieser Entwicklung. Der Faktor der digitalen Services spielte bei der Berechnung der Strafzölle allerdings keine Rolle und wurde von der Trump-Administration einfach ignoriert. Die EU sollte bei ihren Gegensanktionen auch die digitalen Dienstleistungen der großen US-Konzerne berücksichtigen und diese endlich spürbar besteuern.
Laut einem Bericht der Welthandelsorganisation WTO könnte das reale Wachstum des Welthandels durch KI bedingte Produktivitätsfortschritte um fast 14 Prozentpunkte bis 2040 wachsen. Nach Schätzungen der Handelskammern tragen Datenübertragungen mit bis zu 11 Billionen Dollar zur globalen Wirtschaftsleistung bei, mehr als der weltweite Warenhandel, den Trump mit seinen zuletzt verhängten Strafzöllen im Blick hat. Während die USA zunehmend auf staatliche Regeln verzichten und auf Selbstregulierung setzen, hat die EU mit dem AI-Act den weltweit ersten gesetzlichen Rahmen für Künstliche Intelligenz geschaffen. Das Gesetz fördert Innovation und bringt Rechtssicherheit für Entwickler und Unternehmer. Die EU darf dem wachsenden Druck von US-Regierung und Tech-Unternehmen gegen den Digital Service Act (DSA) und Digital Markets Act (DMA), die Plattformen sicherer und transparenter und gerechtere Rahmenbedingungen im digitalen Markt für alle schaffen, nicht nachgeben.
Digitalisierung entscheidet über Souveränität und Wohlstand
Deutschland hinkt in Europa und weltweit digitalpolitisch weit hinterher, so der Zwischenbericht einer Expertenkommission des Bundespräsidenten. Für Andreas Voßkuhle, den früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, hat Deutschland die Digitalisierung „völlig verschlafen“. Der Sachverständigenrat Gesundheit hat unmittelbar nach der Corona-Pandemie in einem Gutachten zur „Resilienz im Gesundheitswesen“ von einem „Schönwettersystem“ gesprochen. Teuer, langsam und wenig erfolgreich – lautet die momentane Bestandsaufnahme. Deutschland kann sich seine selbst verschuldete digitale Lähmung nicht mehr leisten. Ziel und Vision muss sein, Deutschland zu einem der drei wichtigsten Innovationsstandorte zu machen. Dazu fünf Vorschläge:
Erstens: Leistungsfähige digitale Verwaltung. Die digitale Verwaltung ist das Rückgrat des digitalen Staates. Das Service-Angebot der deutschen Verwaltung ist im europäischen Vergleich nur mäßig entwickelt, fragmentiert und kaum nutzerfreundlich. Vorhandene Angebote sind kaum integriert. Statt einmal vorhandene Daten für lebenslagenbezogene Services zu nutzen, muss der Datenaustausch zwischen Behörden häufig von den Bürgern selbst vorgenommen werden. Ziel muss die Umsetzung einer vollständig elektronischen Vorgangsbearbeitung (eAkte) in der öffentlichen Verwaltung sein.
Zweitens: Digitaler Föderalismus und Bundesstaat. Über ein digitales Bürgerportal kann jeder Bürger mit einem persönlichen Konto seine Daten verwalten, online öffentliche Leistungen beauftragen oder seine Steuererklärung machen. Bürgerportal und –konto stärken die digitale Souveränität und Selbstbestimmung und die Teilhabe und Mitbestimmung durch nutzerfreundliche open data-Angebote.
Europas digitale Zukunft braucht politischen Mut und Vertrauen
Drittens: Stärkung der Resilienz. Europa muss auf künftige Pandemien, Kriege und Krisen besser vorbereitet sein. Resilienz (Widerstandsfähigkeit) muss daher zum Bestandteil einer umfassenden digitalen Sicherheitspolitik werden. Dazu gehören Kritische Infrastrukturen wie das Gesundheits-, Telekommunikations- und Energiewesen sowie Gesellschaften, die in der Krise funktionieren und nicht auf Falschmeldungen hereinfallen. So hat Lettland ein Unterrichtsfach Verteidigung eingeführt. Schüler lernen, wie sie sich verteidigen, gesund ernähren und bewegen. Schweden setzt auf das Konzept „total defence“: Europa braucht eine schlagkräftige Armee und nicht 20, von der keine einzige kriegsfähig ist. Bei kritischen Rohstoffen muss Europa unabhängiger werden und eine echte europäische Außenwirtschaftspolitik betreiben, die auf industrielle Partnerschaften setzt.
Viertens: Massive Investitionen in Zukunftstechnologien. KI, Kernfusion, Biotech, Robotik und Quantencomputing sind die disruptiven Innovationsbranchen der Zukunft. Europa hinkt hier, das hat im letzten Jahr der Draghi-Bericht zur Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit gezeigt, bei den Investitionen für Forschung und Entwicklung deutlich hinterher.
Fünftens: Abbau von Bürokratie. Europaweit steigt die Belastung für Unternehmen durch Berichtspflichten. Die Kosten wuchsen in den letzten fünf Jahren von 50 auf fast 70 Milliarden Euro. Die Bürokratiekosten für deutsche Unternehmen liegen laut einer ifo-Studie sechs Prozent. In Deutschland arbeiten heute mehr als 5,4 Millionen Menschen im öffentlichen Dienst, fast 10 Prozent und damit 400.000 mehr als zur Jahrtausendwende. In wenigen Jahren verliert der Staat demografiebedingt jeden dritten Beschäftigten.
Investitionen in Zukunftstechnologien sind unverzichtbar für die Digitalisierung
Der britische Technikjournalist Jamie Bartlett sah in seinem 2018 erschienenen Buch The People vs Tech Demokratie und Technologien in einem Endspiel: „In den kommenden Jahren wird entweder die Technologie die Demokratie und die soziale Ordnung, wie wir sie kennen, zerstören, oder die Politik wird der digitalen Welt ihre Autorität aufdrücken.“ Das Ergebnis wird auch davon abhängen, ob die Bürger Europa und ihren politischen Vertretern wieder Vertrauen entgegenbringen. Die neue Bundesregierung sollte sich die Reform und Resilienz Europas als prioritäres Ziel setzen. Titel des Koalitionsvertrags muss heißen: „In Freiheit und Frieden leben. Europa sicher in die Zukunft führen.“
Hintergrund zum Videolink:
Meseberg im August 2022. Seit einem Jahr regiert die „Fortschrittskoalition“ aus SPD, Grünen und FDP, Finanzminister Christian Lindner erklärt den erstaunten Journalisten am Rande der Regierungsklausur, warum er und seine Behörde das versprochene Klimageld nicht auszahlen können, obwohl das Gesetz in Arbeit und das Geld vorhanden sei: Steuernummer und IBAN können nicht eben so zusammengebracht werden, die Integration der Daten dauere 18 Monate. Aktuell könne die öffentliche Verwaltung mit ihrer IT lediglich 100.000 Überweisungen am Tag vornehmen. Bei 82 Millionen Deutschen dauere das dann mal eben 820 Tage, mehr als zwei Jahre. Heute, drei Jahre später, haben die Bürgerinnen und Bürger immer noch kein Geld auf dem Konto. Im Gegenteil: Die Energiekosten sind für Haushalte und Industrie in den letzten Jahren drastisch gestiegen. Was machen Österreich, die Schweiz und Kanada, die längst einen sozialen Ausgleichsmechanismus haben, besser? Dort ist die gesamte Verwaltung digital, Meldedaten sind zentral gespeichert und abrufbar, der Klimabonus wird über ein Onlinekonto überwiesen oder als Gutschrift per Post verschickt – antragslos und automatisch. Deutschland dagegen hat kein System, das alle Bürger erreicht. Finanzämter, Kindergeldkassen und Krankenkassen sind nicht vernetzt.