
Leitartikel
Fehlende Gestaltungsmacht: Bürgermeister ist kein Nebenjob!
Es gibt Orte, nicht weit entfernt von den protzigen Glaspalästen in Berlin-Mitte, da scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Dörfer, in denen die Kirche noch Mittelpunkt ist, und in denen der Maibaum nicht aus Eventgründen, sondern aus Tradition errichtet wird. Dort, wo man noch weiß, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, und zwar nicht für Instagram, sondern für seine Nachbarn. In genau diesen Orten sind unsere mehr als 7000 ehrenamtlichen Bürgermeister zu Hause. Doch seien wir ehrlich: Das Ehrenamt, einst hochangesehen und Ausdruck bürgerlicher Tugend, steht heute vor Herausforderungen, die kaum ein Teilzeitbürgermeister noch stemmen kann. Die Bürokratie, jene Hydra, die ihre Köpfe schneller nachwachsen lässt, als man sie abzuschlagen vermag, ist längst nicht mehr das Problem allein großer Städte. Selbst in der kleinsten Gemeinde stapeln sich inzwischen Verordnungen, Verwaltungsvorschriften und Förderanträge, bis hinauf zu den goldgerahmten Wolkenkuckucksheimen, die von Berliner Politikern gern "Digitalisierungsoffensiven" genannt werden. Was früher mit gesundem Menschenverstand und einer Sitzung pro Monat zu bewältigen war, erfordert heute Expertenwissen, juristische Unterstützung und, vor allem, Zeit. Zeit, die einem Ehrenamtlichen schlichtweg fehlt, weil er nebenbei vielleicht noch Lehrer, Handwerker oder Landwirt ist.
Bürokratie hemmt - fehlende Gestaltungsmacht aber macht das Ehrenamt kaputt
Dabei wäre die Bürokratie allein vielleicht noch erträglich. Doch hinzu kommen Erwartungen, die sich in den letzten Jahrzehnten potenziert haben. Bürger wollen – und sollen – eingebunden sein, fordern Mitsprache, Transparenz, digitale Bürgerdienste und natürlich stets erreichbare Ansprechpartner. All das klingt wunderbar in den Hochglanzbroschüren des Innenministeriums, wird aber spätestens dann bitter, wenn der ehrenamtliche Bürgermeister nach einem langen Arbeitstag auch noch den aufgebrachten Anruf eines Bürgers entgegennehmen muss, der sich über langsames Internet oder die letzte nicht gestreute Straße im Winter aufregt.
Diese Last der Erwartungshaltung aber wird nicht geringer, sondern wächst mit jeder Sonntagsrede eines Ministers, der das Ehrenamt lobpreist und gleichzeitig in der Hauptstadt Entscheidungen trifft, deren Auswirkungen in erster Linie die Dörfer tragen müssen. Es werden prachtvolle Ideen geboren – Energiewende, Mobilitätskonzepte, Wohnungsbauinitiativen – deren Umsetzung jedoch an der Realität vor Ort scheitert. Berlin träumt, der Bürgermeister aber steht im Regen, und zwar ehrenamtlich, versteht sich.
Das Ehrenamt an sich, jene noble Idee des Bürgers, der sich aus Liebe zur Heimat engagiert, verdient dabei höchste Anerkennung. Doch genau diese Anerkennung bleibt heute oft aus. Es ist bezeichnend, dass die Anerkennung ehrenamtlichen Engagements in Sonntagsreden zwar oft erwähnt, im politischen Alltag aber wenig gelebt wird. Ein warmes Wort ersetzt nun einmal keine tatkräftige Unterstützung, weder finanziell noch organisatorisch. Das Ehrenamt verkommt zur billigen Verwaltungsreserve des Staates. Entscheidungen werden nicht mehr vor Ort getroffen, sondern am grünen Tisch, wo das Elfenbein glänzt, aber kaum die Konsequenzen bedacht werden. Hier wird Politik zum Gesellschaftsspiel derer, die niemals selbst mit anpacken müssen, wenn das Dorf langsam stirbt oder die Jugend abwandert.
Selbstverwaltung geht nur mit mit voller Kraft - Gestaltungsmacht vorausgesetzt
Der Bürgermeister im Ehrenamt mag einmal ein ideales Bild demokratischer Selbstverwaltung gewesen sein, heute aber ist dieses Bild verblasst. Es wäre an der Zeit, dies zu erkennen und endlich Strukturen zu schaffen, die der Realität angemessen sind. Vollzeitbürgermeister, ausgestattet mit ausreichenden Mitteln, Zeit und Ressourcen, könnten tatsächlich etwas bewegen, könnten der Bürokratie die Stirn bieten und die Sorgen der Bürger ernst nehmen. Der Ehrenamtler dagegen droht im heutigen Verwaltungschaos zerrieben zu werden, und mit ihm die Idee des Ehrenamts selbst.
Man kann nostalgisch zurückblicken auf die Zeit, als die ehrenamtlichen Bürgermeister noch das pulsierende Herz ihrer Gemeinde waren, doch diese Zeit geht zu Ende. Anerkennung bedeutet heute nicht nur warme Worte und Urkunden, sondern echte Unterstützung und realistische Bedingungen. Ansonsten wird die ehrenamtliche Bürgermeisterin bald nicht mehr sein als ein romantisches Relikt, dessen Wert zwar alle beteuern, dessen Last aber niemand wirklich tragen will. Und daran trägt nicht das Ehrenamt selbst die Schuld, sondern eine Politik, die aus dem Elfenbeinturm nicht herauskommt und sich weigert, den Tatsachen ins Auge zu sehen.