Gemeindewesenarbeiterin
© Stiftung Liebenau

Sozialpolitik

Eine Gemeinde setzt auf seine Gemeinwesenarbeiterin

26. Januar 2022
Lebensräume für Jung und Alt – in einer generationenübergreifenden Wohnform. Das gibt es schon häufiger. Selten jedoch organisiert als Genossenschaft, wie in der Gemeinde Amtzell. Über ein Stiftungsmodell finanziert sie aus den Einnahmen sogar eine Gemeinwesenarbeiterin. Wir stellen das Projekt vor.

Michaela Allgeier und Christian Erhardt

Amtzell im Allgäu hat so ziemlich alles, was das Leben lebenswert macht. 20 Kilometer vom Bodensee entfernt leben die knapp 4.000 Menschen in dem malerischen Ort in Baden Württemberg zwischen Ravensburg und Wangen. Der Ort gilt als das „westliche Tor zum Allgäu“. Eine weitere Besonderheit des Dorfes: Seit mehreren Jahren finanziert sie eine Gemeinwesenarbeiterin über eine Stiftung. Claudia von Busse ist ihr Name. Und das kam so: Schon in den frühen 90er Jahren baute der Bürgermeister der Gemeinde Kontakt zur Stiftung Liebenau auf. Sie hatten sich auf die Fahnen geschrieben, „Lebensräume für Jung und Alt“ zu schaffen.

Stiftung finanziert Gemeinwesenarbeiterin

„Wir wollten weg vom einseitigen Bild einer Altenhilfe, die ausschließlich den Versorgungsgedanken in den Mittelpunkt stellt“, sagt Ulrich Kuhn von der Stiftung. „Stattdessen haben wir unser Angebot stärker darauf konzentriert, die Selbstständigkeit älterer Menschen zu fördern und Pflegebedürftigkeit durch präventive Maßnahmen zu verhindern. Die Gemeinde Amtzell stellte daraufhin in der Ortsmitte ein Grundstück zur Verfügung. Darauf errichtete die Stiftung Liebenau in den folgenden Jahren eine Mehrgenerationen-Wohnanlage mit rund 40 barrierfreien Wohnungen sowie einem Servicezentrum mit Gemeinschaftsräumen. Das Besondere: Hier leben heute nicht nur ältere Menschen, immerhin rund die Hälfte der Bewohner sind über 60 Jahre alt. Aber auch junge Familien, Alleinerziehende und Menschen mit Behinderungen haben hier ihr neues Zuhause gefunden. „Nach unserer Vorstellung sollte sich in den Häusern eine gegenseitige Nachbarschaftshilfe entwickeln, die - je nach Lebenslage - um ehrenamtliche und professionelle Unterstützungsangebote ergänzt wird“, sagt Ulrich Kuhn und spricht von einem „Bürger-Profi-Mix“.

Ansprechpartnerin für Senioren

Eine tragende Rolle kommt der Gemeinwesenarbeiterin zu, die bei der Stiftung Liebenau angestellt ist. Die ausgebildete Sozialpädagogin ist nicht nur Ansprechpartnerin für die Bewohner der Wohnanlage, sondern steht auch anderen Bürgern in Amtzell, so etwa den „Aktiven Senioren“, zur Verfügung. Claudia von Busse beschreibt die Arbeit selbst so: „Gemeinwesenarbeiterinnen übernehmen Aufgaben, die wir als Hilfe zur Selbsthilfe verstehen. Dabei leisten wir Unterstützung, damit die Nachbarschaft gelingt. Wir organisieren Hilfe, wo sie gebraucht, aber nicht selbst organisiert wird oder werden kann. So nehmen wir eine Lotsen- und Vermittlungsfunktion für nachbarschaftliche sowie professionelle Hilfen, wie zum Beispiel zu Sozialstationen oder Häusern der Pflege, ein. Gemeinwesenarbeiterinnen moderieren, wenn sich Gleichgesinnte für gemeinsame Aktivitäten suchen und unterstützen, wenn sich jemand in der Wohnanlage engagieren möchte. Wir sind das Bindeglied zwischen den Bewohnern und fördern Selbst- und Nachbarschaftshilfe. Wir sorgen für die Vernetzung mit den Ehrenamtlichen. Diese Arbeit wird – so unsere Erfahrung – sehr geschätzt, weil sie unbürokratisch und an den Bedürfnissen der Bewohner orientiert ist. Gemeinwesenarbeiterinnen sind keine Organisatorinnen, sondern Impulsgeberinnen und stehen als solche dann begleitend zur Seite, wenn sie gebraucht werden.“

Zu finden ist Claudia von Busse daher zumeist auch nicht im Rathaus, sondern direkt vor Ort im Servicezentrum – dem Herzstück für Begegnung in Amtzell. 

Netzwerk Amtzell

Diese „Lebensräume für Jung und Alt“ verstehen sich als Baustein eines umfassenden „Netzwerks Amtzell“, das von der Gemeinde seit Jahren aufgebaut und gepflegt wird. Primär dafür verantwortlich ist der „Arbeitskreis Dorfgemeinschaft“, denn er bringt die unterschiedlichen haupt- und ehrenamtlichen Kräfte drei- bis viermal pro Jahr an einen Tisch. Versorgungslücken können auf diese Weise rechtzeitig identifiziert werden. Zu seinen Mitgliedern zählt auch der Verein „Füreinander – Miteinander in Amtzell“, in dem sich rund 80 Freiwillige engagieren. Die Gemeinwesenarbeiterin übernimmt für den Arbeitskreis eine koordinierende Funktion. Über sie ist das Haus jederzeit gut mit der Gemeinde vernetzt. „Der regelmäßige Austausch sorgt dafür, dass die Interessen aller Altersgruppen berücksichtigt werden“, so Ulrich Kuhn von der Stiftung. Als Beispiele nennt er eine familienfreundliche Kinderbetreuung und eine Babysittervermittlung sowie einen ehrenamtlichen Besuchsdienst und das „BürgerMobil“. Schaut man in den Veranstaltungskalender der Gemeinde Amtzell, so finden sich dort auch Angebote wie Seniorensport, Mittagstisch, Singen, Yoga und vieles mehr, jeweils organisiert über die Gemeinwesenarbeiterin. Alle Veranstaltungen sind grundsätzlich offen für alle Gemeindebewohner.

Das Wohnprojekt Kapellenberg wird präsentiert.
Das Wohnprojekt Kapellenberg wird präsentiert.



Doch auch in Amtzell war immer klar: Eine funktionierende Gemeinwesenarbeit gibt es nicht zum Nulltarif. Um die Miete für die Gemeinschaftsräume, das Büro der Gemeinwesenarbeiterin sowie deren Gehalt zu finanzieren, ließen sich die Gemeinde Amtzell und die Stiftung Liebenau eine besondere Lösung einfallen. 1995 legten sie einen Sozialfonds auf, in den Nettomieterträge aus insgesamt acht Wohnungen der Mehrgenerationen-Wohnanlage einfließen und der durch weitere Mittel der Gemeinde sowie der Stiftung Liebenau unterstützt wird. Das hat über 20 Jahre lang hervorragend funktioniert. Doch inzwischen reicht das Geld nicht mehr aus, so dass die Gemeinde und die Stiftung aktuell an einer Erweiterung des genossenschaftlichen Geschäftsmodells arbeiten.

Neues Wohnquartier geplant

Die Lösung liegt in der Erweiterung der Genossenschaften: So holten sich die beiden Partner eine dritte Partei ins Boot, die vor Ort ansässige Kränzle-Stiftung. Ihr Vorsitzender ist der ehemalige Bürgermeister von Amtzell, Paul Locherer. „Wir planen drei weitere Häuser mit rund 35 neuen Wohneinheiten für jüngere und ältere Menschen“, so Locherer. Dabei soll ein Mix aus Eigentumswohnungen und Mietwohnungen entstehen. Neben Büro- und Gemeinschaftsräumen für die Quartiersarbeit ist auch Platz für einen Pflegedienst und einen technischen Health-CareService vorgesehen. „Die Resonanz auf unser Vorhaben ist groß“, so der frühere Bürgermeister. Er war damals bei der Gründung der Stiftung als amtierender Bürgermeister an vorderster Front an dem Projekt beteiligt. Im Jahr 2010 übergab er die Amtsgeschäfte an seinen Nachfolger, den heutigen Bürgemeister der Gemeinde, Clemens Moll.  Locherer hofft, dass die Quartiersarbeit in beiden Wohnanlagen unter einem genossenschaftlichen Dach noch effektiver wird und alle Menschen im Amtzell davon profitieren.

Bürger unterstützen sich gegenseitig

Der Bedarf ist auf jeden Fall da, ist sich auch der heutige Bürgermeister Clemens Moll sicher. „Die Zahl alleinlebender älterer Menschen bei uns wächst. Doch auch Jüngere sind auf unterstützende Strukturen angewiesen, etwa bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Es reicht nicht aus, sich auf professionelle Dienste zu beschränken“, so der Bürgermeister. Eine gegenseitige Hilfe von Bürgerinnen und Bürgern sei als ergänzendes Element sinnvoll und notwendig. Clemens Moll nennt ein Praxisbeispiel: „Eine junge Alleinerziehende und ein älteres Ehepaar, dessen Enkel weit entfernt leben, könnten sich im Alltag ergänzen. So kann eine generationenübergreifende Winwin-Situation entstehen.“ Wenn alles nach Plan läuft und auch die Förderzusagen der Landesbank fließen, soll das Projekt schon im Jahr 2022 umgesetzt werden.

Fotocredits: Präsentation Wonprojekt Kapellenberg: Kränzle-Stiftung Amtzell