Diskurs statt körperlicher Gewalt. Die erneuerbare Demokratie ist der Schlüssel zu einem neuen Miteinander.
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Zukunft

Die Demokratie erneuern

Die Antwort auf den Hass und die Gewalt ihrer Gegner ist die erneuerbare Demokratie. Dazu müssen wir repräsentativer, streitbarer und auch bürgerlicher werden, meint unser Zukunftsforscher Daniel Dettling.

Die Zahlen sind erschreckend. Fast drei Viertel der Bürgermeister in Deutschland werden beleidigt, beschimpft, bedroht oder erfuhren körperliche Gewalt. Acht Prozent mehr im Vergleich zu 2020. Zu den Ursachen des neuen Hasses gehört auch die Corona-Pandemie, sagt jeder Dritte der befragten Kommunalpolitiker. „Gegenwehr“ sei nötig, kommentierte der Bundespräsident die Angriffe. Antworten auf den Hass und die Gewalt gegen Bürgermeister, Bundestagsabgeordnete und Kommunalpolitiker fehlen. Vor allem Frauen und Jüngere ziehen sich aus der lokalen Demokratie zurück.

Die Zahlen sind ein Armutszeugnis für unsere Demokratie. Der erste rechtsextrem motivierte Mord an einem Politiker fand im Juni 2019 statt. Sein Opfer war der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke. Auf Bürgerversammlungen warb er wenige Jahre vor seiner Ermordung für die Unterbringung von Geflüchteten und verteidigte die Politik der Bundesregierung. Im Netz entlud sich daraufhin ein Sturm des Hasses und der Hetze gegen den CDU-Politiker.

Zukunftsforscher: Gewalt ist "riesengroßes Armutszeugnis"

Im Verfahren gegen den Mörder wurden von den Ermittlungsbehörden 64 Internethetzer aus fast dem gesamten Bundesgebiet als Tatverdächtige identifiziert. Im letzten Jahr zählten die Sicherheitsbehörden mehr als 2.600 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger, mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Viele Kommunalpolitiker denken inzwischen über einen Rückzug nach oder haben dies bereits getan, sagte der Bundestagsabgeordnete Karamba Diabry aus Halle in einem Interview und bezeichnete den Trend als „riesengroßes Armutszeugnis für unsere Demokratie.“

Wer will sich angesichts einer solchen Entwicklung noch ein öffentliches Amt oder Ehrenamt antun? Kommunalpolitik scheint männlich und alt zu werden. Der Anteil der Frauen unter den Bürgermeistern der rund 11.000 Städte und Gemeinden beträgt heute gerade einmal neun Prozent. Seit 2015, dem Jahr der Flüchtlingskrise, ist der Anteil um zwei Prozent gesunken, ergab eine Befragung von KOMMUNAL im letzten Jahr. Frauen sind offenbar stärker vom Hass und Angriffen betroffen als Männer. Immer wieder werden sie vor oder nach ihrer Kandidatur in den sozialen Medien auch sexuell belästigt. Ein Amt schreckt generell die Jüngeren ab. Nur noch ein Fünftel der Bürgermeister ist jünger als 45 Jahre, der Anteil der Generation 60plus ist zuletzt auf 30 Prozent gestiegen. Auch dieser Trend ist ein Alarmzeichen für die Zukunft der lokalen Demokratie. Die Vielfalt einer modernen Gesellschaft bildet sie kaum noch ab.

Geschlossene Räume schüren radikale Gedanken

Politik hat sich in der modernen Medienökonomie zur Herrschaft der Stimmungen gewandelt. Objektivität und Wahrheit kommen kaum mehr vor. Die Krise der Print-Medien und der Übergang von der Medien- zur Empörungsdemokratie werden zum Demokratieproblem. Hauptverlierer der Entwicklung sind neben den Politikern die Journalisten. „Der kommunikative Normalfall ist die Wut über die Wut der jeweils anderen Seite“ (Bernhard Pörksen).

Zum entscheidenden Resonanzboden sind das Internet und die sozialen Medien geworden. Bei Facebook existierte auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise eine Reihe von geschlossenen Gruppen, in denen explizit gegen Minderheiten, Politiker und Verfassungsorgane agitiert wurde. Ohne die neuen sozialen Medien wäre der Populismus von rechts in Europa und den USA nicht so erfolgreich geworden. In den USA sperrten Facebook und Twitter erst nach dem „Sturm auf das Kapitol“ in Washington am 6. Januar und Wochen nach seiner Abwahl Donald Trump seine wichtigsten Sende-Kanäle.

Als Gegenwelt zu den öffentlich-rechtlichen und privaten Qualitätsmedien nutzen die alten und neuen „Anti-Parteien“ die Welt des Internets wie keine andere Organisation. Je niedriger das Vertrauen gegenüber der Politik, desto stärker ist die Politik der Stimmungen nicht nur im Netz, sondern auch bei Wahlen. Das politische Vertrauen ist heute in der Corona-Pandemie wie in den Jahren der Flüchtlingskrise auf einem Rekordtief. In dieses Vertrauensvakuum stoßen populistische Kräfte und ihre Parasiten weit in die bürgerliche Mitte hinein: zukunftslose Zyniker, Narzissten und Neurotiker. Schon die Philosophen und Vordenker der amerikanischen Verfassung, Charles-Louis de Montesquieu und Alexis de Tocqueville, warnten davor, dass sich die Mittelschichten für die autoritäre Despotie entscheiden könnten, wenn sie sich von der politischen Klasse nicht mehr verstanden und abgehängt fühlen.

Zukunftsforscher: Demokratie erneuern

Die fünf Strategien der neuen Demokratiefeinde lauten: Desinformation, Delegitimierung, Dämonisierung, Diskontinuität und digitale Propaganda.  Kurz nach Ausbruch der Pandemie sprach die Weltgesundheitsorganisation von einer Gefahr, die nachhaltiger und ernster sei als die eigentliche Pest: die „Infodemie“. Gezielt eingesetzte Falschnachrichten bedrohen nicht nur die Gesundheit, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Europäische Auswärtige Dienst hat jüngst in einer Studie russische und chinesische Desinformationen bei Impfstoffen aufgedeckt. So wurde die moderne mRNA-Technologie von Biontech/Pfizer und Moderna attackiert mit dem Ziel, das Vertrauen in die vom Westen hergestellten Impfstoffe, EU-Institutionen und Impfstrategien zu untergraben. Die anhaltende Seuche der Demokratiefeindschaft ist das gefährlichste Virus unserer Zeit. Ein Impfstoff gegen die Infodemie der Demokratiefeinde ist schwerer zu entwickeln als gegen COVID-19. Demokratiefeinde sind Wirte, die sich von den Schwächen der Demokratie ernähren: den Mangel an Beteiligung und Repräsentation. Ihre Rebellion gegen kann nur durch eine Erneuerung der Demokratie überwunden werden. So wie es Erneuerbare Energien gibt, gibt es auch eine Erneuerbare Demokratie. Ihre Quellen sind Bildung, Medien, Vielfalt und Bürger.

Eine Bildungsoffensive setzt auf Werteorientierung, Medienkompetenz und Debattenkultur. Zur demokratischen Leitkultur werden der zivile Streit, Konfliktbewältigung, Bürgerdialoge und -entscheide auf kommunaler und Landesebene. Beantwortet werden muss zweitens die Frage, was uns seriöser und qualitativer Journalismus wert ist. Wenn die Zahl der Beschäftigten in PR-Agenturen die Zahl der Journalisten übersteigt, gerät Demokratie in eine Schieflage. Drittens: Demokratie muss repräsentativer und damit vielfältiger werden. Der Anteil der Parteimitglieder und Mandatsträger mit Zuwanderungsgeschichte spiegelt ihren Anteil in der Bevölkerung kaum ab. Nur sechs von 335 Oberbürgermeistern haben ausländische Wurzeln, das sind keine zwei Prozent, obwohl bundesweit der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund bei über 20 Prozent liegt. Verbindliche Zielwerte und Quoten sind überfällig. Und es braucht viertens mutige Bürgerinnen und Bürger, die den Feinden der Demokratie den Wind aus den Segeln nehmen: im Netz, auf den Straßen, in den Schulen und in den Rathäusern. Ihr Engagement muss aufgewertet und stärker anerkannt werden, beispielsweise durch einen „Feiertag der Demokratie“ am 23. Mai, dem Gründungstag unserer Republik.

Demokratie ist erneuerbar, wenn sie repräsentativer, streitbarer und bürgerlicher wird. Stärker als der Hass ist die Hoffnung, dass die Erneuerung gelingen kann. Hoffnung stiftet, was der Hass zerstört: den Zusammenhalt und die Zuversicht auf eine bessere gemeinsame Zukunft.