Klimaschutz
Hochwasser: Risiken beim Schutz nicht kleinreden
Tschechien, Polen, Österreich und Rumänien kämpfen gegen das Hochwasser. In Deutschland steigt in vielen Regionen die akute Hochwassergefahr. Wie können Kommunen die Schäden minimieren, indem sie für einen effektiven Hochwasserschutz sorgen? Was müssen Bund und Länder tun? Rainer Carstens vom Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten und Naturschutz (NLWKL) unterbreitet konkrete Vorschläge.
KOMMUNAL: In Ihrer Region waren im jüngsten nassen Winter immer wieder Deiche ein Thema. Warum?
Rainer Carstens: Die Güte einiger Anlagen ist den Anforderungen einfach nicht mehr gewachsen. Das gilt vor allem für Dämme, die im strengen Sinne nur Verwallungen sind – also künstliche Aufhöhungen eines Geländes in Ufernähe. Diese sind zwar gut zu bewirtschaften, aber kaum geeignet, Hochwasser über Wochen abzuhalten. Wenn das Wasser nicht langsam durch den Deichkörper selbst versickert und an der Luftseite am Deichfuß abgeführt wird, sondern auf der Deichböschung außen austritt und abfließt, dann kann immer auch Baumaterial ausgetragen werden. Die Folge: Die Verwallungen werden noch stärker durchströmt, immer poröser und können brechen. Was wir brauchen – bei zunehmenden Stark- und Dauerregenereignissen – sind Deiche in hinreichender Güte, sogenannte gewidmete Deiche, die zweimal im Jahr kontrolliert werden. Dafür fehlt es in vielen Kommunen derzeit aber an personellen und fachlichen Kapazitäten.
Auf manchen Deichen stehen Bäume. Auch in Zukunft eine gute Idee?
Rainer Carstens: Eher nicht. In diesem Winter wurde das Hochwasser von einem Orkantief mit starken Böen begleitet und Bäume stürzten, auch von Deichen. Die Bäume stehen mit ihren Wurzeln in einem eingestauten Dammkörper, sie haben durch die Nässe weniger Halt, die Bäume werden instabil und kippen samt Wurzelteller. Dadurch können Dämme geschwächt oder aufgerissen werden. In unseren Kommunen hat man vielerorts während des Hochwassers Bäume fällen müssen.
Brauchen Kommunen jetzt eine Art Masterplan für Hochwasserschutz?
Definitiv. Allerdings werden das vor allem kleinere Kommunen weder personell noch fachlich leisten können. Auch deshalb haben wir einen Masterplan erstellt, der von jeder Kommune – nicht nur in Niedersachsen – heruntergeladen werden kann. Zudem haben wir als Land Gefahren- und Risikokarten erstellt, die ebenfalls frei verfügbar sind. Solche Karten gibt es für jede schwerer betroffene Region, das kann nicht jede Kommune in Eigenregie auf die Beine stellen.
Sie plädieren zudem für kommunale Hochwasser-Partnerschaften. Warum sind sie so wichtig?
Derzeit kommt es noch vor, dass an Oberläufen von Gewässern gelegene Kommunen nichts für den Rückhalt von Wasser tun und an Unterläufen gelegene Ortschaften damit gefährden. Das sollte nicht sein. Wir brauchen solidarische Planungen in den Regionen entlang und haben in Niedersachsen mit solchen Partnerschaften auch schon gute Erfahrungen gemacht. Besonders stolz sind wir auf Bürgermeister, deren Kommune im Ernstfall gar nicht gefährdet sind, die sich aber um so engagierter für tiefer gelegene Kommunen einsetzen.
Brauchen wir neue Gesetze, etwa bezüglich des Abstands zwischen Fließgewässern und Bebauung?
Eher nicht. Wir brauchen eine konsequente Umsetzung der bestehenden Gesetze in der Praxis und eine umfangreichere Aufsicht der lokalen Politik. Kommunen sollten Siedlungen in Flächen strikt verbieten, die anhand der entsprechenden Risikokarten auch nur einmal in einem Jahrhundert von starken Überschwemmungen betroffen sein könnten. Dazu sind Überschwemmungsgebiete berechnet und ausgewiesen. Es ist manchmal es bitter zu sehen, dass vor Ort genehmigt wird, was nicht genehmigt werden sollte.
Einerseits wird in Kommunen Wohnraum gebraucht und neue Gewerbeflächen bringen Geld ins Stadtsäckel. Andererseits braucht es mehr Renaturierung und Wasserauffanggebiete. Die Lösung?
Die eine, für alle praktikable Lösung, gibt es sicherlich nicht. Aber es muss auch nicht immer Entweder-oder heißen. Kommunen könnten überlegen: Welche Gebiete kann ich interessierten Unternehmern als Alternative anbieten? Oder können Vorgaben in Richtung hochwassergerechtes Bauen die Lösung sein, bei der Retentionsflächen mit eingeschlossen werden? Da ist vieles möglich. Allerdings dürfen Kommunen eines auf gar keinen Fall tun: mögliche Risiken kleinrechnen. Zukunftsgerechtes Denken, das muss heute auch immer heißen: Klimawandel und Naturschutz bereits im Planungsstadium mitdenken.
Bei kleineren Ereignisse ist eine Art von Hochwasser- und auch Niedrigwasser-Demenz feststellbar.
Braucht es nicht auch eine bessere Kommunikation unter allen Beteiligten inklusive der Bürgerschaft im Vorfeld von Starkwetterereignissen?
Die braucht es unbedingt. Es muss zum Beispiel zeitnah überdacht werden, ob es tatsächlich eine gute Idee war, viele Sirenenanlagen einfach abzubauen. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang: Kommunen sollten sich mit etwaigen Gefahren im Vorfeld beschäftigen und jetzt Alarmpläne ausarbeiten, die im Ernstfall schnell umgesetzt werden können.
Welche Lehren sollten Kommunen aus der Ahrtal-Katastrophe ganz generell ziehen?
Schwierig. Ganz schwierig. Fest steht: Die Vorwarnzeiten müssten länger sein, können es aber gerade in kleineren Einzugsgebieten nicht; bei größeren Flussgebieten bietet der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz NLWKN mit der Hochwasservorhersage eine gute Hilfestellung. Und: die Warnung muss bei allen ankommen. Wir müssen einfach lernen, klüger mit Wasser umzugehen. Das gilt nicht nur für Hochwasser, sondern auch für Dürreperioden. Vielleicht ist das auch ein Auftrag an die Bildung, denn wir brauchen eine informierte Bürgerschaft. Viele Menschen wissen gar nicht, dass sie auf einem risikoreichen Gelände wohnen. Auf jeden Fall sollte die Katastrophe im Ahrtal in von Fachleuten begleitete, umfangreiche Evaluierungen münden. Erkenntnisgewinne sind in diesem Bereich wichtiger denn je.
Viele Kommunen leiden unter einem Investitionsstau, oftmals im zweistelligen Millionenbereich. Was nutzen Erkenntnisse, wenn es kaum Spielräume gibt, um Maßnahmen zu planen und umzusetzen?
Das ist richtig. Auch aus diesem Grund haben wir in Niedersachsen den Masterplan erarbeitet, Kommunen zur Verfügung gestellt und bieten über das Hochwasserkompetenzzentrum in Verden zusätzliche Beratung an. Vor der Finanzierung stehen allerdings die konzeptionellen Planungen. Ich kenne Kommunen, in denen mit einem neuen Bürgermeister oder dem Abgang von Wissensträgern auch die entsprechenden Pläne vom Tisch waren. Wissensverluste – durch Ruhestand oder Abwahl – können wir uns aber gerade in diesem sensiblen Bereich nicht erlauben.
Generell bescheinigen Sie vielen Kommunen, aber auch Bürgerinnen und Bürgern, eine Art von Demenz. Was meinen Sie damit?
Hochwasserereignisse sind genauso wie Dürresommer recht schnell aus dem Gedächtnis verschwunden, spätestens wenn aktuelle Probleme in den Kommunen auf die Tagesordnungen drängen. Eine Ausnahme bildet da natürlich die Ahrtal-Katastrophe, die mit ihren vielen Toten wahrscheinlich im kollektiven Gedächtnis bleiben wird. Bei kleineren Ereignisse ist eine Art von Hochwasser- und auch Niedrigwasser-Demenz allerdings feststellbar.
Einen Appell an die Medien haben Sie auch. Welchen?
Die Medien sollten es vermeiden, jede winterliche Schneeflocke als Schneechaos zu bezeichnen und nicht jedes Hochwasser gleich als Katastrophe deklarieren. Die Verwendung von starken Vokabeln und unangebrachten Superlativen verhindern, dass Menschen Wetterereignisse in ihrer Bedeutung richtig einschätzen lernen und bei Warnungen angemessen reagieren.
Das Interview erschien zuerst am 22. Mai 2024.