Trend
Die neue Anziehungskraft der Kleinstädte
Experten und Politiker gaben Wittenberge einst keine Chance mehr. „Die Menschen wollen hier künftig nicht mehr leben, prophezeiten sie uns“, erinnert sich Bürgermeister Oliver Hermann. „Klar war damals: Wer jung ist, der will doch lieber in die Großstadt.“ Und tatsächlich: Bis vor zehn Jahren verabschiedeten sich viele Wittenberger von ihrer Heimatstadt. Väter, Mütter und Omas und Opas erlebten, wie Kinder und Enkel wegzogen. Die sanierte Altstadt wirkte lange Zeit fast wie ausgestorben. „Die Stadt war um die Jahrtausendwende existenzgefährdet“, sagt der Bürgermeister. Der Trend hatte schon vor der deutschen Wiedervereinigung eingesetzt. „Die Generation zwischen 40 und 50 Jahren fehlt uns noch heute weitgehend“, bedauert Hermann.
Kleinstädte sind im Kommen
Inzwischen aber zieht Wittenberge in der strukturschwachen Prignitz nicht nur die Rückkehrer an, sondern auch Großstädter, die sich in die kleine Stadt an der Elbe verliebt haben. Wittenberge zählt heute 17.000 Einwohner, es ist gelungen, den besorgniserregenden Abwärtstrend vergangener Jahre aufzuhalten – und das nicht nur durch den Zuzug von Flüchtlingen. Diese Kleinstadt erlebt eine Renaissance - und mit ihr viele andere Orte. Immer mehr Deutsche können sich das Leben in einer kleinen Stadt oder gar auf einem Dorf vorstellen. Für mehr als die Hälfte der Stadtbewohner ist es denkbar, in den nächsten Jahren aufs Land zu ziehen, das hatten Umfrage in Zeiten der Corona-Pandemie ergeben.
Jetzt, wo die Großstädte wieder mit Partys, Klubs, Konzerten und Kneipenvielfalt locken, dürfte sich die Stimmung etwas verändert haben, doch die hohen Immobilienpreise, die Probleme in großstädtischen Schulen und die wachsende Aggressivität auf den Straßen mischen die Karten neu. Verstärkt wollen Eltern, dass ihre Kinder in einer ruhigeren Umgebung aufwachsen, andere wollen einfach nur selbst der Großstadt-Hektik entfliehen. Der HomeOffice-Trend macht es möglich, dass die Menschen nicht jeden Tag mehr zur Arbeit in die große Stadt fahren müssen, falls es in einer ländlichen Gegend keine passende Arbeitsstelle gibt. Und selbst wenn die Zinsen allerorts steigen, so ist das Bauen in einer Kleinstadt für den einen oder anderen auf dem Land doch noch erschwinglich.
Neue Chancen der Kleinstädte müssen genutzt werden
Ein Selbstläufer ist die neue Chance für die Kleinstädte aber nicht – und nicht jede Kleinstadt wird neue Bewohner gewinnen können. „Niedrige Wohnkosten allein sind in peripheren Lagen kein hinreichender Gunstfaktor, wenn das Wohnumfeld nicht zugleich mit guten Nah- und Daseinsvorsorgeeinrichtungen dienen kann“, stellt das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung in einer Analyse über die Zukunft der Klein- und Mittelstädte fest. Die Daseinsgrundversorgung ist eine Hauptaufgabe der Kleinstädte – das gilt für peripher und zentral gelegene Kleinstädte gleichermaßen. „Je dünner besiedelt ein Raum ist, desto mehr übernehmen Kleinstädte die Funktion von regionalen Zentren“, betonen die Experten des Berichts. So haben diese Orte eine entscheidende Rolle in der Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse. „Kleinstädte sind vor allem Ankerpunkte der regionalen Daseinsvorsorgesicherung in peripheren ländlichen Regionen“, sagt der Leiter des Instituts, Markus Eltges. Deshalb ist es für die Städte so wichtig, dass sie Ärzte, Apotheken, Pflegedienste und Physiotherapeuten bieten können. Gute Schulen und verlässliche Kindergärten gehören dazu. Befragungen zeigen: Die Bevölkerung der Kleinstädte lebt gern in ihrem Wohnort und zeigt sich diesen Städten auch sehr verbunden. Verhältnismäßig viele Einwohner möchten aus ihrer Kleinstadt unter keinen Umständen wegziehen.
Homeoffice und Coworking
Was macht eine Kleinstadt attraktiv? Ohne gutes Internet geht auf dem Land nichts mehr. Das gilt vor allem auch für das mobile Arbeiten. Im Juli 2019 hatte Wittenberge Großstädter eingeladen, beim „Summer of Pioneers“ das Leben in der brandenburgischen Provinz zunächst ein halbes Jahr lang auszuprobieren. 60 Interessierte bewarben sich auf 20 Plätze. „Der Erfolg war so groß, dass wir das Projekt ein halbes Jahr verlängerten“, berichtet Hermann. Das Resultat ist eine gelungene Standortwerbung. Heute führen die „Elbhandwerker“ weiter, was der „Summer of Pioneers“ initiiert hat. Die Community aus ehemaligen Pioneers, eingesessenen Prignitzern und neu Zugezogenen hat inzwischen das erfolgreiche, aber zeitlich begrenzte Projekt in dauerhafte Strukturen überführt. „Das Netzwerk ist offen für alle Menschen, die nach einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten suchen und ein Bedürfnis nach Ruhe, Natur und Entschleunigung verspüren, auch wenn sie noch nicht hier leben“, so die Organisatoren.
Summer of Pioneers und elblandwerker
Der „Summer of Pioneers“ habe viele Digitalarbeiter auf Probe nach Wittenberge gebracht, rund die Hälfte von ihnen bleibe in der Prignitz. Die Netzwerke der Kreativen und die mediale Aufmerksamkeit ziehen weitere Menschen aus Großstädten in die Region. Das kann auch Bürgermeister Hermann bestätigen. Der damals entstandene Coworking Space und der Stadtsalon Safari – ein Veranstaltungsort für Lesungen, Konzerte, Kino oder Theater - haben sich als Orte für die Community etabliert. Der Coworking Space bietet Solo-Selbstständigen, Start-ups und Unternehmen Platz zum ortsunabhängigen Arbeiten. „Beide Orte haben gezeigt, dass sie auch für Gäste aus den Metropolen Berlin und Hamburg sehr attraktiv sind“, bilanzieren die Macher. Damit diese das Leben und Arbeiten in Wittenberge testen können, bieten die „elblandwerker“ in Kooperation mit der Wohnungsbaugesellschaft der Stadt weiter auch Wohnen auf Zeit an.
„Für den ländlichen Raum ist der Onlinehandel eine Riesenchance."
Gesundheitsbranche auf Platz 2 bei Arbeitsplätzen
Wittenberge liegt fernab jeder Großstadt. Nach Berlin sind es 150 Kilometer, nach Hamburg ist es genauso weit. Schwerin und Rostock liegen 100 Kilometer entfernt, Magdeburg 120 Kilometer. Die Bedingungen sind also nicht so günstig für eine glänzende Zukunft, könnte man auf den ersten Blick meinen. Die Stadt kann aber noch zwei Trümpfe ausspielen: Die frühere Industriestadt hat einen ICE-Anschluss und ganz in der Nähe entsteht die Autobahn A 14. „Kleinstädte haben dann eine gute Chance, wenn sie erreichbar sind“, sagt der Bürgermeister. Im Falle von Wittenberge kommt hinzu, dass am Ort rund 7000 Arbeitsplätze vorhanden sind - die meisten in der Industrie und im verarbeitenden Gewerbe sowie im Handwerk. Auf Platz 2 steht das Gesundheitswesen mit Gesundheitszentrum, drei Seniorenzentren und diversen Pflegediensten, gerade wird eine neue Augentagesklinik gebaut.
Tourismus neuer Arbeitgeber in Wittenberge
Als neuer Arbeitgeber hat sich der Tourismus entlang des Elberadwegs etabliert, eine Branche, die in der ehemaligen Industriestadt nicht vorstellbar war. Auch der stationäre Handel bietet Arbeitsplätze, tut sich aber wie auch andernorts schwer. Wittenberges Bürgermeister ist zu dem Schluss gekommen, dass der vielkritisierte Onlinehandel dennoch auch sein Gutes hat. Er führt dazu, dass die Menschen auch in Gegenden ohne Shoppingmeilen zurechtkommen. „Für den ländlichen Raum ist der Onlinehandel eine Riesenchance“, zeigt sich Hermann überzeugt. „Wichtig ist vor allem, dass der Alltagseinkauf durch Lebensmittelläden und Supermärkte gesichert ist.“
Kleinstadtakademie will vernetzen
Auch der Bund hat erkannt, dass die 2.100 Kleinstädte in Deutschland mit ihren 24 Millionen Einwohnern einen immer wichtigeren Part einnehmen. „Sie stiften Identität, sind in ländlichen Räumen für die Versorgung des Umlands wichtig und entlasten in dichtbesiedelten Räumen die großen Städte“, beschreibt Bundesbauministerin Klara Geywitz die bedeutende Funktion. Um diese Städte zukunftssicher zu machen, soll eine Kleinstadtakademie Beratungs- und Vernetzungsangebote zur Stadtentwicklung bieten. In der Pilotphase macht neben vielen anderen Kommunen auch Wittenberge mit: Dort fand auch das erste Präsenztreffen statt. Als eine von fünf Städten bringt die Stadt sich beim Thema „digitale Arbeitswelten“ ein. Mölln, Dipoldiswalde, Oestrich Winkel und Dießen am Ammersee sind mit dabei in diesem Kleinstadtverbund innerhalb des „StadtLabor“. Ideen werden temporär in den Städten erprobt. Die Kleinstädte sind bis 30. Juni aufgerufen, sich um den Standort der Kleinstadtakademie zu bewerben. Zur Bewerbung.
Knapp 50 Prozent Fördermittel für ländlichen Raum
Knapp die Hälfte der Bundesmittel fließen laut Bauministerium in den ländlichen Raum. Für kleine Städte bestehen zusätzliche Förderkonditionen - etwa für interkommunale Zusammenarbeit. Der kommunale Eigenanteil kann dabei auf bis zu 10 Prozent abgesenkt werden.Für die drei Programme der Städtebauförderung stellt der Bund seit 2017 Finanzhilfen von pro Jahr 790 Millionen Euro bereit, davon 300 Millionen Euro für das Programm Lebendige Zentren, 200 Millionen Euro für das Programm Sozialer Zusammenhalt sowie 290 Millionen. Euro für Wachstum und nachhaltige Erneuerung.
Landsberg: Kleinstädte und Dörfer als Impulsgeber
Der Geschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, sieht den Trend „Ich möchte auf jeden Fall in einer Großstadt wohnen“ längst gebrochen. „Mit der Ortsungebundenheit des Arbeitsplatzes gewinnen der ländliche Raum und die Kleinstadt an Bedeutung“, sagt er. „Hier können die Kinder häufig noch allein zu Fuß zur Schule gehen, es gibt ein reges Vereins- und Sportleben. Die Natur und Sicherheit und Sauberkeit sind weitere Pluspunkte." Auch wenn der politische Scheinwerfer immer stark auf den Großstädten liege, lebe es sich in den kleineren Strukturen häufig besser. „Viele ländliche Gebiete und Kleinstädte sind zudem schon zu Impulsgebern technologischer Innovationen geworden: Lokale und nachhaltige Energiemodelle, Renaturierung und Klimaschutz, progressive Telemedizin oder internationale Mobilitätskonzepte – Kleinstädte können auch Vorbild für Lösungen in großen Städten sein“, betont Landsberg. „Gerade auch in strukturschwächeren Regionen gehören Kleinstädte in ihren Funktionen weiterhin gestärkt. Dann können sie zu Zukunftsorten werden.