Mitreden - die Live-Sendung in den ARD Inforadios und auf dem YouTube Kanal der Tagesschau hatte das Thema "Meinungsfreiheit" aufgegriffen - und unser Chefredakteur erläuterte, warum Debattenkultur und Demokratie vor Ort in den Kommunen gerettet werden
Mitreden - die Live-Sendung in den ARD Inforadios und auf dem YouTube Kanal der Tagesschau hatte das Thema "Meinungsfreiheit" aufgegriffen - und unser Chefredakteur erläuterte, warum Debattenkultur und Demokratie vor Ort in den Kommunen gerettet werden
© Youtube

Talk-Format

Meinungsfreiheit? Wie Kommunen Debatten versachlichen können

Filterblasen, Feindbilder, dünnes Fell – die große Debatte über „gespaltene Gesellschaft“ trifft die kommunale Praxis täglich. In der ARD-Reihe „Mitreden! Deutschland diskutiert“ nahm KOMMUNAL-Chefredakteur Christian Erhardt-Maciejewski die kommunale Perspektive aufs Podium: weniger Alarmismus, mehr Miteinander. Sein Punkt: Kommunen können Streit organisieren – und ihn befrieden. Mit ganz praktischen Formaten vom Marktplatz bis zur Bibliothek.

Mitreden heißt die Sendung - sie läuft in allen ARD Inforadios und wird live auf dem YouTube-Kanal der Tagesschau gesendet. Das Thema der jüngsten Ausgabe: "Wie viel Toleranz braucht unsere Gesellschaft?" Spannende Einblicke zu Themen wie "Einschränkung des Meinungskorridors" und "Wie polarisiert ist unsere Gesellschaft wirklich" und "Was macht das mit Kommunalpolitik - wie viel Meinungspluralität ist überhaupt noch vorhanden"

Erhardt-Maciejewski widersprach der dramatischen Gesamtdiagnose: In kommunalen Gremien gelinge trotz mehr Parteien die Verständigung – weil Sachfragen dominieren. „Was wir erleben, ist oft kein Riss, sondern ein Erregungspotenzial, das schneller hochkocht.“ Entscheidend sei, wieder miteinander statt übereinander zu reden.

Ein zweiter Punkt: Die Aggressivität trifft heute häufiger die Spitze im Rathaus. Online kochen Konflikte in Minuten hoch, was den Mut zur offenen Ansage senke. Trotzdem plädiert er dafür, auch unbequeme Positionen anzuhören – Grenzen setzt das Grundgesetz, nicht der lauteste Shitstorm.

 

Demokratie, die Angst vor Extrempositionen hat, ist wie ein Boxer, der nicht in den Ring will – dann verliert man halt kampflos.“

Christian Erhardt-Maciejewski

Konkretes Beispiel 1: Halberstadt – Bürgersprechstunde auf dem Marktplatz

Erhardt-Maciejewski sieht in Beispielen wie der Aktion in Halberstadt eine Blaupause: einmal im Monat offenes Bürgertreffen auf dem Marktplatz, jeder darf ausreden, mit klaren Redezeiten. Jeder bringt sein Thema mit – vom Schlagloch bis zur Flüchtlingsfrage. Der Effekt: Gesicht zeigen statt Gerüchteküche, direkte Antworten, weniger Eskalation.

Sobald Menschen sich in die Augen sehen, wird aus dem Gegner wieder der Nachbar.

So setzen Sie das vor Ort um:

  • Terminritual: fester Wochentag, immer gleiche Uhrzeit.
  • Neutral moderieren: ein externer Moderator hält Redezeiten ein, fasst Beschlüsse/To-dos zusammen.
  • Transparenz: kurze Ergebnisnotiz im Ratsinformationssystem und auf der Website.
  • Sicherheitsnetz: klare Hausordnung (Respekt, keine Beleidigungen), Abbruchkriterium benennen.

Konkretes Beispiel 2: Die Stadtbibliothek als neutraler Debattenraum

Zweites Werkzeug aus der Praxis: öffentliche Diskussionsabende in der Stadtbibliothek. Warum gerade dort? Bibliotheken gelten als neutraler Ort – niedrigschwellig, generationenübergreifend, ohne Parteifahne. Besonders bewährt hat sich als Format der „Perspektivwechsel“ erläutert er. Das heißt: Jemand stellt ein Buch oder einen Podcast vor, in dem Meinungen vertreten werden, die mit der Meinung desjenigen, der das Thema vorstellt, gar nicht überein passen. Trotzdem soll er die Inhalte positiv vermitteln, sich in die Gedankenwelt des Autors versetzen. Format: 10 Minuten Impuls danach strukturierte Diskussion und kurzer Schlussvereinbarung.

 

Wer auch intensiv mit Andersdenkenden spricht, nimmt ihnen den Mythos des Verbotenen und gewinnt Glaubwürdigkeit.“

Christian Erhardt-Maciejewski

Checkliste für Bürgermeister:

  • Partnerschaft mit Bibliothek/Volkshochschule, ggf. Kirchen/Sozialverbänden.
  • Kurze Inputs (max. 10 Minuten), dann Fragen – keine Monologe.
  • Karten-Feedback (grün/rot) für schnelle Stimmungsbilder.
  • Follow-up: Pro Thema drei konkrete Maßnahmen, nächster Termin fix.

Netz-Sturm entgiften: Drei Regeln aus der Kommunalpraxis

  1. Proaktiv informieren: Nach jeder Ratssitzung ein neutrales Sitzungsbriefing in Social Media (was beschlossen, warum, was folgt).
  2. Best-Practice statt Brandreden: 80 % der Posts lösungsorientiert – „So hat Ort X das gelöst“.
  3. Zielscheibe schützen: zentrale Accounts (Rathaus) antworten sachlich; persönliche Angriffe nicht privat austragen.

Die Perspektive der anderen Diskussionsteilnehmer

Sineb Al-Masrar: Den Stillen eine Bühne

Die Autorin warnte davor, die Diskursräume den Schreihälsen zu überlassen. Streit sei nötig – aber zielgerichtet: „Wir dürfen die Bühne nicht den Lautesten überlassen – die Stillen müssen lauter werden.“ Ihr Impuls passt in die kommunale Welt: Moderierte Bürgerabende, klare Regeln, kurze Redezeiten, echte Entscheidungen am Ende.

Nils Kumkar: Beobachtung statt Bauchgefühl

Der Bremer Soziologe erinnerte an Daten: Viele Menschen empfinden Spaltung, tatsächlich bleiben Mehrheiten in der Mitte. Social Media verstärke Wahrnehmungen. „Viele meinen, die Gesellschaft sei gespalten – aber jeder versteht darunter etwas anderes.“ Für Kommunen heißt das: Fakten zeigen, Grautöne zulassen, Konflikt nicht dramatisieren, sondern strukturieren.

Sicherheit & Haltung: Bürgermeister nicht alleine lassen

Erhardt-Maciejewski sprach offen die wachsende Aggressivität gegen Amtsinhaber an – bis hin zu körperlichen Angriffen. Konsequenz: klare Schutzstandards (Hausrecht, Anzeige, schnelle Kommunikation), aber keine Selbstzensur. „Demokratie heißt, den anderen anzuhören – auch und gerade, wenn ich die Meinung nicht teile.