Gastkommentar
Neutralität in der Verwaltung? Gibt’s nicht!
Auch in Deutschland waren die vergangenen Jahre geprägt durch eine Vielzahl an schweren, teils sich überlappenden Krisen. Viele Bürgerinnen und Bürger sind verunsichert angesichts komplexer gesellschaftlicher Veränderungen. Offenbar hat die Frage nach einem angemessenen Umgang mit Transformationsprozessen und globalen Polykrisen erhebliche Teile der Gesellschaft überfordert, polarisiert und unversöhnlich gespalten. Dieser Erschöpfungs- und Ausnahmezustand droht sich zum „normalen“ Dauerzustand der Gegenwartsgesellschaft zu entwickeln.
Orientierungslosigkeit spielt den Vereinfachern in die Hände
Vor diesem Hintergrund wächst das Verlangen nach orientierenden kollektiven Sinnangeboten. Diese Gemengelage ist der ideale Nährboden für Vereinfacher und ihre oftmals gefühls- statt faktenbasierten Weltanschauungen. In ihrem Gepäck führen sie reduktionistische Ansätze und deuten ihre Welt mittels schlichtem Gut-Böse-Schema. Sie bieten mit ihren Vereinfachungen bzw. Lügen allerdings nur scheinbar plausible Erklärungen für in Wahrheit hochkomplexe Zusammenhänge an. Dabei nutzen sie längst überholte Muster vorurteilsbesetzter Agitation, die unsere demokratisch verfasste Gesellschaftsordnung und ihre zivilisatorischen Werte und Errungenschaften fundamental in Frage stellen bzw. verachten.
Ist die Welt buchstäblich aus den Fugen geraten, wird der Ruf nach „Ordnung" wieder lauter. In dieser Lage nutzen Populisten und Demagoginnen parlamentarische Anfragen als Mittel der Provokation und Diskreditierung, wie aktuell beispielsweise die Auseinandersetzungen um den Entwurf des Demokratiefördergesetzes zeigen. Oder sie versuchen, zivilgesellschaftlichen Vereinen und Institutionen auf parlamentarischem („Kleine Anfragen“) und juristischem Wege die staatlichen Fördergelder streitig zu machen, weil diese – so der perfide Vorwand – das Neutralitätsgebot nicht einhalten bzw. beachten.
Sprich: Jene Akteure und Parteien, die parlamentarische Verfahren ad absurdum führen und letztlich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung agitieren, behaupten Verstöße gegen das Neutralitätsgebot ausgerechnet bei denjenigen Vereinen, die sich für Demokratie und Pluralismus einsetzen.
Zwischen Neutralität und Bewertung – was darf Verwaltung?
Vor Wahlen ist es in etlichen Verwaltungen üblich, auf das sogenannte Mäßigungs- und Neutralitätsgebot hinzuweisen. Alle Mitarbeiter sollen sich in dienstlicher Funktion neutral verhalten und etwa politischen Veranstaltungen fernbleiben.
Doch was heißt Neutralität, und wie ist sie im Zusammenhang mit dem Handeln von Verwaltungen zu verstehen? Ergibt sich aus ihr die Pflicht, sämtliche Parteien annähernd gleich zu behandeln? Die Rechtslage zum – wie auch immer verstandenen – „Neutralitätsgebot“ ist dabei keineswegs so eindeutig, wie einschlägige Debatten oftmals den Anschein erwecken (siehe juristische Einordnung). In einer aktuellen Kurzinformation des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages heißt es: „Ob und gegebenenfalls inwieweit die Behörde im Rahmen schlichten Verwaltungshandelns ein allgemeines Neutralitätsgebot zu wahren hat, ist allerdings weder ausdrücklich im Grundgesetz geregelt noch innerhalb der Rechtsprechung geklärt.“
Der Begriff „Neutralität“ lässt sich auf neutralitas – den „Zustand des Nichtgebundenseins beispielsweise an eine von mehreren Seiten oder Parteien“ – zurückführen. Im Rahmen von Verwaltungshandeln wird häufig das Konzept der Neutralität gegenüber politischen Parteien bemüht, um mit Begriffen wie Unparteilichkeit und Chancengleichheit eine angemessene Rolle der Verwaltung zu kennzeichnen. Eine neutrale Haltung einzunehmen hieße demnach auch, Diskurse um Einstellungen, Werte und Haltungen (und seien diese noch so totalitär und menschenverachtend und demzufolge unvereinbar mit demokratischen und ethischen Grundsätzen) mit kühler Neutralität zu verfolgen, statt sie zu gestalten und sich eindeutig zu positionieren.
Ist diese beschriebene Interpretation von Neutralität mit Blick auf die gesellschaftspolitischen Realitäten noch angemessen und ausreichend? Denn eine so verstandene Neutralität – oder anders ausgedrückt: Unparteilichkeit – läuft Gefahr, als Legitimierung demokratieverachtender Bewegungen missverstanden zu werden.
Neutralität ist keine Wertfreiheit
Wer Rechtsstaat und Demokratie bewahren will, müssen nach Meinung der Autoren insbesondere staatliche Akteure mehr tun, als in einem Wahlkampf auf das Neutralitätsgebot und die Mäßigung im Wahlkampf hinzuweisen und sich ansonsten zu diesen Fragen in der Öffentlichkeit zurückzuhalten.
Es geht dabei nicht um Wahlbeeinflussung, sondern um eine klare Haltung zu zentralen demokratischen Grundsätzen und Werten. Diese sollte man bereit sein zu verteidigen – Neutralität ist jedoch ein für eine entschiedene Verteidigung nicht geeignetes Konzept. Sir Karl Popper hat dazu in „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ einen bis heute grundlegenden Gedanken formuliert: „Uneingeschränkte Toleranz führt … zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen“, dann lasse sich eine tolerante Gesellschaftsordnung nicht aufrechterhalten. Seine griffige Formel: „Ideologien, die Intoleranz predigen, verlieren ihren Anspruch auf Toleranz.“ Die Gefährdungen einer vernachlässigten Demokratie werden sichtbar, wenn zwar auf die Einhaltung des Neutralitätsgebotes hingewiesen wird, jedoch sich in den Bereichen der politischen Bildung und der Demokratieförderung starke Defizite zeigen.
Kommunen als Bollwerk der Demokratie
Eine nachhaltige Zukunftsgestaltung im beschriebenen Sinn erfordert also mehr als Neutralität und ein Beharren auf tradierten Reaktionsmustern. Es bedarf eines vertrauensvollen Zusammenwirkens zwischen Bürgerschaft, Verwaltung und Politik, gerade auf kommunaler Ebene. Hier, in den Städten und Gemeinden, wirkt das soziale Eingebundensein in nahezu alle Politikbereiche und ist deswegen ein unverzichtbarer Bestandteil von nachhaltigem, demokratischem Handeln in unserer offenen Gesellschaftsordnung. Oder wie Oskar Negt so treffend formulierte: Die „Demokratie ist die einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss – immer wieder, tagtäglich und bis ins hohe Alter hinein“. Dies gilt erst recht in Zeiten postfaktischer Verunsicherung.
Zu den Autoren:
Beide Autoren sind in der kommunalen Verwaltung beschäftigt, aber nicht befugt, im Namen ihres Arbeitgebers zu sprechen, weshalb sie diesen Gastbeitrag als Privatpersonen verfasst haben.
Jan-Philipp Küppers hat einen Diplomabschluss (FH) in Sozialarbeit/Sozialpädagogik, einen Bachelorabschluss in Politikwissenschaften und Soziologie sowie einen Masterabschluss in Planung und Partizipation.
Sönke Petersen hat einen Magisterabschluss in Mittlerer und Neuer Geschichte, Politikwissenschaften und Slavistik. Außerdem besitzt er einen Bachelor- und Masterabschluss in Pflegewissenschaften mit dem Schwerpunkt Pflegemanagement.