Meinungsumfragen sind nicht selten die kleine Schwester der Lügenpresse, meint Christian Erhardt und sagt: "Mit der richtigen Manipulation lässt sich für fast jede Aussage ein Beleg konstruieren".
Meinungsumfragen sind nicht selten die kleine Schwester der Fake-News, meint Christian Erhardt und sagt: "Mit der richtigen Manipulation lässt sich für fast jede Aussage ein Beleg konstruieren".
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Leitartikel

Meinungsumfragen: Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast...

Meinungsumfragen haben einen immer größeren Einfluss auch auf die Kommunalpolitik. Doch Statistiken sind nicht selten die kleine Schwester der Fake-News, meint Christian Erhardt und warnt Kommunen vor „Quatschumfragen“ als Grundlage für politische Entscheidungen.

Meinungsumfragen sind im Trend - ob in der Lokalzeitung oder von Kommunen selbst initiiert. Doch es gibt viele Fallstricke - so manche "vermeintliche Meinung" ist nicht mehr als die Meinung lautstarker Minderheiten. Wie zurecht finden im Dickicht der "Meinungsinflation"? Eine Einordnung für Kommunen von Christian Erhardt. 

Die Inflation der Meinungsumfragen - alles Fake-News? 

„So denken die Bürger Ihrer Gemeinde“! Wirklich? In Online-Foren gibt es seit einiger Zeit eine regelrechte Inflation von Umfragen. Was die Macher oft selbst als „Spass-Tool“ bezeichnen, hat immer größeren Einfluss auf die Entscheidungen in Gemeindeparlamenten. Dank Internet-Livestream wohnte ich vor kurzem einer Stadtratssitzung in einer ländlichen Kommune bei. Es ging um das Thema Tempo 30. Ein Befürworter zitierte eine Online-Umfrage der örtlichen Zeitung, wonach zwei Drittel der Teilnehmer sich für flächendeckendes Tempo 30 im Ort ausgesprochen haben. Was ich in einer Stadt wie Köln vielleicht geglaubt hätte – Tempo 30 wäre dort für viele Autofahrer in der Innenstadt ein echter Geschwindigkeits-Zugewinn – kam mir in einem ländlich strukturierten Ort mit zahlreichen Ortsteilen doch komisch vor. Meine Recherche ergab: Das Umfragetool war offen für jedermann zugänglich, auch ich konnte problemlos zehn Mal abstimmen, die Umfrage war in einen Artikel eingebettet, der die Vorteile von Tempo 30 erklärte. Das ist das System: „Angel auswerfen und mal gucken, welcher Nutzer anbeißt“. Doch das angebliche repräsentative Ergebnis beeinflusste die Diskussion im Gremium natürlich enorm.

Schon lange haben Meinungsumfragen einen riesigen Einfluss auf die Politik. So hat die Bundesregierung innerhalb einer Legislaturperiode über 6000 Umfragen in Auftrag gegeben. Eine Studie des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung ergab im vergangenen Jahr, welch enormen Einfluss diese Umfragen auf das Handeln der Bundesregierung hatten – Positionen wurden kurzfristig geändert, weil die Bürger vermeintlich eine andere Auffassung vertreten.

Meinungsumfragen sind wichtig - aber es muss Regeln geben! 

 

Das ist zunächst überhaupt nicht zu kritisieren, denn natürlich soll Politik „dem Volk aufs Maul schauen“. Schwierig wird es, wenn diese Umfragen mit seriöser Sozialforschung nichts mehr zu tun haben. Ein Beispiel: Der von vielen Lokalzeitungen genutzte Anbieter „Civey“ führt auch Umfragen unter „Entscheidern in der Kommunalpolitik“ durch. Laut eigener Aussage waren das im Mai vergangenen Jahres rund 240.000 Personen. Im September vergangenen Jahres sprach der gleiche Anbieter von 120.000 Entscheidern in Deutschland. Anders gesagt: KOMMUNAL sterben offenbar gerade reihenweise die Leser weg, erstaunlich, dass unsere Abonnenten- und Zugriffszahlen so ganz andere Ergebnisse liefern. Aber Frötzelei beiseite! Obwohl das Unternehmen gerade mehrere Niederlagen vor Gericht kassiert hat und seither übrigens solche Zahlen gar nicht mehr veröffentlicht, nutzt selbst der sonst so seriöse „Verband der kommunalen Unternehmen“ VKU, deren Tools und bietet Umfragen zum Thema „Lokale Energiewende“ an. Da wird etwa für jeden Deutschen Landkreis dargestellt, wie groß die Bereitschaft der Menschen vor Ort ist, sich ein E-Fahrzeug anzuschaffen. Der Haken dabei: Angeblich wurden deutschlandweit 10.000 Menschen online befragt. Heruntergerechnet etwa auf den Landkreis Prignitz in Brandenburg wären das neun Befragte, für eine Stadt wie Tübingen sind es statistisch gesehen acht Antworten. Auf solch einer Basis sollte kein Stadtwerk ernsthaft Entscheidungen treffen!

Zu oft wird leider nicht hinterfragt, wer die Umfragen mit welchem Ziel auf welcher Basis macht. Die Bitkom etwa ist der Interessenverband der Digitalbranche in Deutschland, dahinter stecken Banken, Kreditkartenanbieter und Software-Entwickler. Super und absolut wichtig, dass sie eine Stimme haben. Nur mag ich Umfragen solcher Verbände zum „Erfolg des kontaktlosen Bezahlens in Kommunen“ eher als selektive Wahrheit wahrnehmen denn als wirklich statistisch abgesicherten Fakt. Konsequenzen für die politische Dynamik einer Kommune dürfen solche Online-Abfragen nicht haben.

Stadtentwicklung, Verkehrspolitik - hier sind Meinungsumfragen sogar enorm wichtig für Kommunen

Ganz klar: Bürgerumfragen in Kommunen sind wichtig und richtig. Gerade die großen Felder der Stadtentwicklung, die Verkehrspolitik der Zukunft, das neue Rathaus, die Zufriedenheit mit den Lebensbedingungen im Ort – das alles will vermessen werden. Und auch die Vertreter im Gemeinderat sind hier meist gefangen in ihrer Filterblase. Deshalb tun sie gut daran, nicht nach dem Motto: „Ist man selbst die Wahrheit, muss alles andere Lüge sein“ zu verfahren und ihre Bürger systematisch einzubinden und zu befragen. Dafür sollte jede Gemeinde aber klare Regeln und Standards entwickeln. In unserer Grafik haben wir Ihnen einige Ideen für solche Standards zusammengestellt. Umfragen können die politische Willensbildung ergänzen, aber nie ersetzen. Statistiken sollte man nie blind vertrauen. Denn mit der richtigen Manipulation lässt sich für fast jede Aussage ein Beleg konstruieren.  

Anbei haben wir Ihnen einige wichtige Tipps zusammengefasst, falls Sie in nächster Zeit eine Umfrage unter den Bürgern ihrer Kommune planen: 

Meinungsumfragen