
Integration
Hessens Schulen testen Ukrainisch als zweite Fremdsprache
Sie wollen Mediziner werden oder IT-Spezialisten, Lehrer oder Anwälte. Die ukrainischen Kinder, die bei Mariia Sapa im Klassenzimmer sitzen, haben große Pläne für ihre Zukunft. Dem Krieg und Chaos in der Heimat entflohen, sind sie nun Teil der Schulgemeinschaft in der Lahntalschule Lahnau und belegen das neu eingefügte Fach „Ukrainisch als zweite Fremdsprache“. Sie gehören zu den mehr als 200.000 ukrainischen Schülern in Schulen in ganz Deutschland. In Hessen haben sie seit diesem Schuljahr die besondere Möglichkeit, ihre Muttersprache als zweite Fremdsprache zu wählen. Die ersten Erfahrungen sind vielversprechend.
Ukrainisch als zweite Fremdsprache
„Ich unterrichte im Moment eine Gruppe von 25 ukrainischen Kindern, die aus den Schulen der Umgebung hier zusammenkommen“, berichtet Mariia Sapa, die Ukrainisch als zweite Fremdsprache lehrt. Im März 2022 floh Sapa selbst mit ihren beiden kleinen Kindern nach Deutschland. In ihrer Heimat hatte sie als Lehrerin gearbeitet, in Deutschland befindet sie sich nun in der Anerkennungsphase. Ukrainisch als Fremdsprache unterrichtet Sapa für die Kinder der 7. und 8. Klasse zweimal die Woche in zweistündigen Einheiten als Hauptfach.
Ukrainischen Kindern und Lehrern Perspektive geben
Über 21.000 ukrainische Kinder und Jugendliche sind derzeit im hessischen Schulsystem. Damit ist die Gruppe der Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine an hessischen Schulen größer als die Gruppe aller in den vergangenen zwei Jahren geflüchteten Kindern und Jugendlichen aus den zehn weiteren häufigsten Herkunftsländern zusammen. Auch auf der Ebene der Lehrenden sind Geflüchtete aus der Ukraine mittlerweile präsent und so arbeiten in Hessen aktuell mehr als 320 Lehrkräfte aus der Ukraine an den Schulen. Dies war auch die Ausgangslage für die Einführung des Fachs „Ukrainisch als zweite Fremdsprache“. Das erklärte Ziel: Die Jugendlichen aus der Ukraine sollen eine größere Bildungsperspektive für höhere Abschlüsse bekommen. Außerdem sollen Fachkräfte gesichert und weitere Lehrkräfte aus der Ukraine für den Unterricht auch anderer Fächer gewonnen werden.
Schulversuch an 17 Standorten
Hessen ist das erste Bundesland, in dem seit diesem Schuljahr an insgesamt 17 Standorten Ukrainisch als zweite Fremdsprache gewählt werden kann. Aktuell belegen rund 200 Schülerinnen und Schüler am Gymnasium, an der Realschule und an der Integrierten Gesamtschule dieses Fach. Auch wenn sich das Fach nicht nur an ukrainische Jugendliche richtet, sondern an alle Schülerinnen und Schüler, die Interesse daran haben, die ukrainische Sprache zu erlernen und die Kultur und Geschichte der Ukraine kennenzulernen, sind es aktuell mehrheitlich ukrainische Schüler, die das Fach gewählt haben, wie Sapa berichtet.

Wichtige Nachholarbeit und Sprachschulung
„YABLUKO“ ist der Titel des vom Ministerium erarbeiteten dreiteiligen Lehrwerks, mit dem Mariia Sapa in ihrem Unterricht arbeitet. Begleitend initiiert sie kulturelle Projekte, Theaterstücke und Rollenspiele. Das Sprachniveau, das im Unterricht gefordert wird, reicht vom Level A1 bis C1 – für die aktuell in ihrer Klasse sitzenden Muttersprachler erst einmal scheinbar keine Herausforderung. Gleichwohl stellt Sapa fest: „Die Coronazeit und der Krieg haben bei den Kindern zu langen Leerzeiten geführt, die deutlich nachwirken. Die Kinder können zwar Ukrainisch sprechen, aber es gibt große Lücken bei der Grammatik und nicht wenige haben auch die Buchstaben des kyrillischen Alphabets vergessen und müssen hier viel aufholen“. Würden auch deutsche Schüler in ihrem Unterricht sitzen, so wie bei manchen ihrer Kollegen, sei das eine besondere Herausforderung: „Dann gilt es natürlich, gut zu differenzieren und passende Aufgaben für die jeweilige Ausgangslage der Schüler zu entwickeln“, so Sapa.
Höhere Bildungsabschlüsse als Ziel
Nach Erfahrung von Sapa ist das Angebot, die eigene Muttersprache als zweite Fremdsprache wählen zu können, eine große Erleichterung für die ukrainischen Kinder, die ohnehin schon deutlich höhere Hürden zu überwinden hätten als ihre Klassenkameraden. „Die Kinder, die wegen des Krieges nach Deutschland gekommen sind, waren dazu gezwungen, in sehr kurzer Zeit Deutsch als vollkommen neue Sprache zu lernen“, sagt Sapa. Viele seien dabei sehr erfolgreich und ehrgeizig gewesen und würden nun unbedingt einen höheren Bildungsabschluss erwerben wollen, um eine gute Perspektive zu haben.
Hoffnung trotz ungewisser Zukunft
Vor zwei Jahren noch hat Mariia Sapa einen Intensivkurs für Deutsch angeboten und ist hier auf viele schwer traumatisierte Kinder gestoßen, die viel geweint hätten und erzählt. „Die Kinder haben oft viel erlebt und viele traurige Geschichten im Gepäck“, sagt Sapa, mittlerweile aber seien die meisten der jungen Ukrainer gut angekommen in Deutschland und hätten sich in ihrem neuen Leben eingerichtet. Dass Ukrainisch in Hessen nun als eigenständiges Fach belegt und eingebracht werden kann, sei für die Kinder Zeichen der Wertschätzung ihrer Heimat und eine wichtige Unterstützung. „Sie merken dadurch, dass sie ernst genommen werden und wichtig sind“, so die Lehrerin. Dass Ukrainisch als weitere europäische Sprache als zweite Fremdsprache gewählt werden könne, schlage eine wertvolle Brücke in das Geburtsland der Kinder und trage nicht zuletzt auch zur Vertiefung der Integration bei. So sagt Sapa: „Die Kinder verstehen, dass der Krieg noch andauert und vollkommen ungewiss ist, ob und wann sie in die Ukraine zurückkehren können. Wenn ich sie frage, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen, sehen sich viele von ihnen in Deutschland.“