Die Heimat retten – mit Digitalisierung
Am Hauptbahnhof Berlin steige ich in den Zug. Mein Weg führt mich aus der dreckigen, lauten Hauptstadt, quer durch die Landschaften von Sachsen-Anhalt und Niedersachsen über die Städte Ostwestfalens ins beschauliche Ahaus. Die nordrhein-westfälische Stadt wirkt auf den ersten Blick wie eine typisch mittelgroße Stadt: Einfamilienhäuser reihen sich aneinander. In den gepflegten Vorgärten parken die teuren Autos. Die Straßen sind ruhig. Hin- und wieder treffe ich auf jemanden, der mir freundlich zunickt.
Doch die 40.000 Einwohner-Stadt ist viel mehr als nur eine typisch deutsche Stadt. Denn egal, ob man mit der Verwaltung kommunizieren, in der Innenstadt shoppen gehen oder sein Parkticket bezahlen will – hier funktioniert alles über das Smartphone.
Smart City bedeutet nicht, dieTraditionen aufzugeben
"In Ahaus wird die Digitalisierung gelebt. Bürger, Einzelhandel, Unternehmen, Gastgewerbe und Vereine sind vernetzt und neue Angebote machen die Stadt attraktiv und liebenswert. Aber wir legen hier auch großen Wert auf Tradition, wie beispielsweise den Karneval oder das Schützenfest," , erklärt Karola Voß, die Bürgermeisterin von Ahaus. Ich sitze neben 40 Delegierten aus dem Landkreis Leer im Ahauser Rathaus und lausche ihrer Begrüßungsrede.
Wir, die Besucher, sind hier, um herauszufinden, was es eigentlich bedeutet, in einer Smart City zu leben. Wir wollen erfahren, wie Ahaus den Sprung in die Digitalisierung geschafft hat und was andere Kommunen von der Stadt im westlichen Münsterland lernen können. Denn Ahaus ist mithilfe der Digitalisierung gelungen, wovon viele andere Städte träumen: Die Einwohnerzahl ist in den letzten Jahren gestiegen, wichtige Unternehmen sind in der Region geblieben und trotz des anhaltenden Fachkräftemangels ist es gelungen, vielfältige Freizeitangebote aufrechtzuerhalten.
Nach der Rede geht es mit der Stadttour los. Unser erster Stopp ist das Bamboo. Ein Restaurant, in dem man nicht mit Bargeld, sondern mit der App Chayns bezahlt. „Man kann sich sein Essen auch online vorbestellen, sodass es schon fertig ist, wenn man den Laden betritt“, erklärt Dieter van Acken, Mitarbeiter des Tech-Unternehmens, das die App entwickelt hat und die Digitalisierung in der Stadt im Kreis Borken mit vorantreibt.
"Wir hätten hier dicht machen können"
Nach dem wir aufgegessen haben, müssen wir nicht einzeln bezahlen. Stattdessen wurde die Rechnung direkt mit der Bestellung beglichen. Die Sonne strahlt uns ins Gesicht und wir entscheiden uns für einen Spaziergang am Wasser. Im Wind schaukeln ein paar Boote. „Früher konnte man sich die Boote von einem Betreiber ausleihen, der die Schlüssel ausgegeben und das Geld angenommen hat“, erklärt van Acken. Doch als der Mitarbeiter in Rente ging, fand Ahaus keinen Nachfolger für ihn. „So einen Job will heute niemand mehr machen. Wir hätten den Verleih dicht machen können.“ Heute aber gibt es den Bootsverleih dank der Digitalisierung immer noch. Und er funktioniert ohne Mitarbeiter vor Ort: Wer ein Boot ausleihen will, muss lediglich einen QR-Code einscannen, das Boot per App entriegeln und bezahlen. Und kann dann losfahren.
Wir schlendern weiter zu unserem nächsten Stopp und bleiben vor dem „Smartel at the Unbrexit“ stehen. Einem Hotel, das ohne die Digitalisierung ebenfalls längst weg wäre. „Es stand lange Zeit leer. Selbst große Hotelketten wollten es nicht übernehmen, weil es sie meistens in die Großstadt zieht“, berichtet van Acken. „Hinzu kommt natürlich, dass in der Gastronomie und Hotellerie Fachkräfte fehlen. Denn junge Menschen haben keine Lust mehr auf Jobs, bei denen sie Tag ein Tag aus dasselbe machen müssen. Bei denen sie nur Betten aufschütteln oder Geschirr abspülen müssen, erklärt er. „Wenn Betriebe wegbrechen, bricht auch der Tourismus ein - und damit eine wichtige Einnahmequelle für Kommunen.“ Also kaufte seine Firma das Gebäude, sanierte es und eröffnete das Hotel neu. „Allerdings wussten wir von Anfang an, dass das Hotel nur dann eine Zukunft hat, wenn es mit weniger Personal funktioniert“, erzählt van Acken. Und heute kommt das „Smartel at the Unbrexit“ ohne Hotelier und Empfang aus. So checken die Gäste per App ein. Im hoteleigenen Restaurant bestellen und bezahlen sie mit dem Handy. Selbst die Klimaanlage, die Gardinen oder das Licht im Zimmer werden über die App gesteuert. Checkt ein Gast über die App aus, bekommt der Zimmerdienst automatisch eine Benachrichtigung und kann es für die nächsten Touristen vorbereiten. Das Hotel, das Restaurant und der Bootsverleih sind nur einige Beispiele für Unternehmen in Ahaus, die sich digitalisiert haben. Sogar der Nachtclub „Next“ existiert nur noch, weil von der Mitarbeiterauswahl, über die Getränkebestellung, bis hin zum Einlass alles digitalisiert wurde und die Betreiber so Kosten sparen und den Club am Leben halten konnten. „Die Umstellung von analog auf digital lohnt sich für die Einzelhändler und Betriebe finanziell“, van Acken grinst.
Die Innenstadt bleibt attraktiv - und das mithilfe der Digitalisierung
Der Erfolg der Unternehmen wirkt sich auch auf die Kommune aus: Denn mit jedem Einzelhändler, jedem Gastronom oder jedem Freizeitangebot das eingestellt wird, sinkt die Attraktivität einer Stadt. Abwanderung, Leerstand, weniger Steuereinnahmen und finanzielle Probleme sind nur einige der dramatischen Folgen. Bleibt die Stadt jedoch lebendig, profitieren nicht nur die Bürger, sondern auch die Verwaltung. "Auch für das Rathaus hat sich die Arbeit in den letzten Jahren verändert. Wir haben nicht nur die Ratsarbeit digitalisiert, sondern nutzen mittlerweile auch digitale Akten und wollen bis zum Jahr 2025 circa 90 Prozent aller Unterlagen elektronisch führen, erklärt Doris Zevenbergen, Leiterin des Büros der Bürgermeisterin. Selbst das Parken funktioniert in Ahaus teilweise ohne Schranken, Kontrolleure oder Parktickets und damit ohne großen Verwaltungsaufwand. Kameras scannen das Kennzeichen der Autos, verknüpfen die Daten mit einem Online-Konto, von dem die Stadt alle Kosten automatisch abbucht.
Die Digitalisierung wird zur Chefsache
Besonders stolz ist Voß aber auf den Stadtgutschein. Mit dem lokalen Einkaufsgutschein wird die Kaufkraft in der Stadt gehalten und so Einzelhandel und Gastronomie gestärkt. Früher musste der Gutschein ausgedruckt werden, alle Rechnungen sortiert und das Geld manuell an die Einzelhändler überwiesen werden. Heute wird das alles digital geregelt - und dadurch verringert sich der Arbeitsaufwand massiv. Ahaus hat deshalb kaum noch Arbeit mit dem Gutschein, macht aber mit einem jährlichen Verkauf von 28.000 Stück ordentlich Gewinn. "Er ist ein geniales Steuerelement, das sehr dabei hilft, die Stadt Ahaus weiterhin erfolgreich als starke Einkaufstadt zu positionieren und gleichzeitig gegen den Online-Handel und dessen Angebote behaupten zu können", erklärt Claudia Platte, Geschäftsführerin von Ahaus Marketing und Touristik.
Langsam neigt sich der Tag dem Ende zu und für mich geht es zurück nach Berlin. Und auch die Leerer machen sich auf den Weg nach Hause. Allerdings mit einem klaren Ziel: Nämlich die Digitalisierung in der Heimat zur Chefsache zu erklären.
Schauen Sie in den nächsten Tagen noch einmal vorbei und hören Sie in unseren Podcast zum Thema rein. Hier erfahren Sie, warum die meisten Städte an einer Digitalisierung scheitern. Was Kommunen eigentlich für den Prozess brauchen und was der Landkreis Leer an Ideen gesammelt hat und nun als erstes umsetzen will.