Ein Tag im Jobcenter
Die Maschine summt, während der Kaffee langsam in die Tasse läuft und Annett Herrlich1 ihren Rechner hochfährt. Der Arbeitstag beginnt. Wir sitzen in Raum 603 des Jobcenters Berlin-Mitte. Annett betreut als Arbeitsvermittlerin Kunden mit einer Schwerbehinderung und in Reha-Maßnahmen. Jeden Tag spricht sie mit Menschen, die entweder körperlich oder seelisch krank sind. Ihr Job ist es, den Menschen zu helfen, wieder eine Arbeit zu finden – sofern es der Gesundheitszustand zulässt.
Früher Karriere gemacht, heute Kunde beim Jobecenter
Es ist 8:15 Uhr, Annett trinkt bereits ihren zweiten Kaffee aus und läuft in den Wartebereich, um ihren ersten Kunden abzuholen. Einige Sekunden später kommt sie ins Büro, gefolgt von einem dunkelhaarigen Mann. Dimitri Makarow ist Mitte 40 und trägt ein rotes Polohemd mit blauer Jeans. Die beiden nehmen an einem kleinen Holztisch in der Ecke Platz, während ihr Schreibtisch leer bleibt. Der direkte Kontakt ist ihr wichtig, weil sie während der Beratung nicht auf ihren Monitor starren, sondern dem Kunden ihre volle Aufmerksamkeit schenken möchte. Dimitri ist schon seit Jahren Kunde von Annett. Eigentlich begann seine Karriere außergewöhnlich gut: Der Betriebswirt managte bereits ein Hotel, leitete ein Restaurant und arbeitete in Konstanz, London und Berlin. Doch dann kam die Sucht. 20 Jahre lang kämpfte Dimitri gegen den Alkoholismus. Hinzu kamen Halswirbelsäulenprobleme. Dimitri ist jedoch kein Einzelfall. Untersuchungen zeigen, dass Arbeitslosigkeit eine starke Belastung ist und Suchterkrankungen hervorrufen kann.
Abhängig vom Jobcenter - Portemonnaie leer
„Ich weiß jetzt, was ich machen will“, sagt Dimitri. Gemeinsam mit einem Coach hat er seine beruflichen Möglichkeiten ausgelotet. Denn mit seiner Suchterkrankung sollte Dimitri nicht länger in der Nähe von Alkohol, also nicht in gastronomischen Betrieben arbeiten. Nun will er stattdessen Ausbilder für Gastronomieberufe beim Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA) werden. Dafür muss er jedoch einen Lehrgang machen.
„Das ist eine tolle Idee“, findet Annett. „Mit ihren beruflichen Erfahrungen haben Sie sehr gute Chancen. Die Prüfung zur Förderung des Kurses durch das JobCenter möchte ich gerne anbieten. Jedoch erst in einem halben Jahr“, erklärt sie. Denn Dimitri war erst vor kurzem beim Ärztlichen Dienst der Bundesagentur für Arbeit. Und der Bericht macht ihm nun erstmal einen Strich durch die Rechnung: In den nächsten sechs Monaten muss sich Dimitri vorrangig um seine Gesundheit kümmern. In dieser Zeit darf das Jobcenter ihm nicht bei der Jobsuche helfen. Dimitri ist entsetzt: „Ich kann einfach nicht mehr länger zu Hause sitzen. Das macht mich fertig. Und immer ist mein Geldbeutel leer.“ Annett geht auf ihn ein und spricht ihm gut zu. Und tatsächlich – am Ende des Gesprächs sieht Dimitri ein, dass er es erstmal ruhiger angehen und mehr auf seine Gesundheit achten sollte. Annett wirkt überzeugend und routiniert. Sie kennt diese Gespräche. Denn im Gegensatz zu weitläufigen Vorurteilen wollen die meisten ihrer Kunden schnellstmöglich zurück ins Berufsleben. Nur bei drei ihrer 129 Kunden hat sie den Eindruck, dass sie kein Interesse daran haben, eine Arbeit zu finden.
Krebs und andere Erkrankungen treiben die Menschen in den Ruin
„Vor mir sitzen Menschen, die jahrelang in gut bezahlten Berufen gearbeitet haben und dann aufgrund einer Krebserkrankung oder Nierentransplantation jahrelang nicht arbeiten können und ins Sozialsystem rutschen“, erzählt sie uns. „Es gibt Tage, da muss ich eine Pause machen, aus dem Gespräch gehen und heulen, weil die Menschen mir so krasse Geschichten erzählen.“ Für solche Fälle gibt es eine Notfallseelsorge. Wenn es Annett schlecht geht, kann sie sich an ihre Teamleiterin wenden, die psychische Beratung anbietet. Während eines Bildungsurlaubs mit dem Schwerpunkt Work-Life-Balance hat Annett Strategien erlernt, wie sie mit Stress im Alltag umgehen kann: „Ich meditiere dann für fünf Minuten, um wieder runter zu kommen“, erklärt sie.
Dabei muss sie auch viel aushalten, denn immer wieder schreien Kunden aus Frustration. Für Annett ist das in Ordnung. „Dass man wütend und frustriert ist, wenn man von 424 Euro im Monat leben muss, kann ich gut verstehen. Aber nur solange sich die Wut gegen das System richtet und nicht gegen mich als Person“, sagt sie. Wenn sie persönlich angegriffen wird, beendet Annett den Termin. Im Zweifel verhängt sie dann Hausverbot und erstattet Anzeige. Denn immer wieder werden Mitarbeiter der Jobcenter angegriffen. Erst vor kurzem hat ein Kunde eine Mitarbeiterin in Cottbus mit einem Messer verletzt, weil seine Leistungen gekürzt wurden. „Etwa einmal in der Woche gibt es einen Vorfall und der Wachdienst muss gerufen werden“, sagt Annett. Sie selbst wurde noch nicht angegriffen, aber immer wieder arbeitet sie auch mit wahnhaften Menschen zusammen. Ein Leistungsempfänger erzählte mehrfach Unwahrheiten über Mitarbeiter des Reha-Teams. „Er ist bei uns bekannt und jeder weiß, dass diese Unterstellungen nichts mit der Realität zu tun haben.“ So hat Annett drei Kunden mit Persönlichkeitsstörungen, bei denen sie während des Gesprächs die Tür offen lässt. Wenn diese Kunden da sind, ist der Wachschutz informiert und immer in der Nähe. Annett zeigt uns auf ihrem Desktop zwei Buttons, die Alarm auslösen. Einen Alarm-Button für den Fall, dass sie persönlich angegriffen wird und einen für Amokläufe. Doch die Mitarbeiter erhalten auch immer eine Schulung, sodass sie sich im Notfall selbst retten können. „Klar bringt der Beruf eine gewisse Gefahr mit. Aber er macht mir auch verdammt viel Spaß. Es gibt nichts schöneres, als Kunden, die mit einem Arbeitsvertrag wiederkommen und endlich sich selbst und ihre Familien ernähren können“, erklärt sie und ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus.
Jobcenter: Termine werden hin und wieder geschwänzt
Jetzt ist es Zeit für Annetts zweiten Termin. Doch ihr Kunde taucht nicht auf. Das passiert Annett selten. Doch Erstgespräche werden hin und wieder aus Angst geschwänzt. In solchen Fällen hat Annett immer einen Ermessensspielraum, so dass sie entscheiden kann, wann sie sanktioniert oder nicht. „Deshalb finde ich es gut, dass wir hier Mitarbeiter aus der Bundesagentur und aus der Kommune im Haus haben und auch abteilungsübergreifend Wissen austauschen können“, freut sie sich. „So erweitert sich bei uns ständig die Fachkompetenz.“
Weniger freut sie sich allerdings über die unterschiedliche Bezahlung. Obwohl sie und ihre Kollegin von der Bundesagentur im selben Gebäude sitzen und den gleichen Job machen, verdient sie als kommunale Mitarbeiterin brutto 400 Euro weniger. „Andere Kommunen wie beispielsweise Hamburg haben das Gehalt schon angepasst“, erzählt Annett. „Da bekommen kommunale Mitarbeiter Ausgleichszahlungen. Aber hier in Berlin geht die Politik bisher nicht auf unsere Forderungen ein.“ Forscher rechnen in den kommenden Jahren mit steigenden Arbeitslosenzahlen. Die Jobcenter werden dann noch stärker gefordert sein. Für Kommunen wie Berlin könnte es dann schwierig werden, ausreichend Mitarbeiter zu finden.
Wird das Jobcenter in Zukunft digitalisiert?
Momentan ist die Situation noch entspannt. Die Wartezimmer sind im Vergleich zu anderen Behörden relativ leer. Das liegt auch daran, dass über 79 Prozent der Anliegen über das Telefon geklärt werden können. Und in Zukunft könnte die Digitalisierung noch weiterhelfen: Erste Jobcenter in München und kleineren Kommunen testen Beratungen über Skype aus. Videotelefonie wird ein persönliches Gespräch aber niemals ganz ersetzen können. Immer noch gibt es viele Menschen, die mit der Technik nicht zurechtkommen. „Außerdem sind wir nicht nur Berater, sondern auch Freund, Psychologe und Lehrer“, schließt Annett ab.