Die Innenstadt hat ihre beste Zeit noch vor sich - aber deutlich anders als bisher, meint unser Zukunftsforscher
Die Innenstadt hat ihre beste Zeit noch vor sich - aber deutlich anders als bisher, meint unser Zukunftsforscher

Sterben der Einkaufsmeilen

Innenstadt: Es lebe die Erlebnisstadt

Die Einkaufsstadt ist tot, es lebe die Erlebnisstadt. Sie setzt auf Trinkwasserbrunnen, Sitzbänke, Gärten, Bauernmärkte und Fitnessplätze auch im Freien. „So haben die Innenstädte ihre beste Zeit noch vor sich“, meint unser Zukunftsforscher Daniel Dettling.

Zur Zukunft nach Corona gehört das Ende der Innenstadt. Genauer: Unserer Vorstellung von der Innenstadt. Corona hat uns die Bedeutung der dichten, europäischen Stadt wieder bewusst gemacht. So viel Zeit in den eigenen Innenstädten wie während der Corona-Monate haben wir noch nie verbracht, auch weil sie nahezu frei von Touristen und Kauflustigen waren. Für viele sind Parkbänke und Grünflächen wichtiger geworden als Kaufhäuser und Ketten. Nach Corona wird das Kleine, Überschaubare wichtiger: das Nachbarschaftliche, das Regionale. Unwichtiger werden das Globale, das Große und das Austauschbare. Statt am Leitbild der autogerechten und schnellen Stadt aus der Nachkriegszeit festzuhalten, ist es Zeit für eine neue Vision. Die Einkaufsstadt ist tot, es lebe die gemischte und gemeinsam genutzte Erlebnisstadt!

Das Ladensterben in der Innenstadt werden wir nicht aufhalten...

Bis zu 50.000 Geschäfte könnten nach Corona dauerhaft schließen. Wie können wir das Überleben des inhabergeführten Einzelhandels und die Bezahlbarkeit von Böden und Mieten in den Städten verbinden? Durch Integration von arbeitenden und wohnenden Menschen! Mehr Büros, mehr Wohnungen und mehr Kitas und Schulen sind der Weg zu neuen gemeinsam genutzten Innenstädten. Es braucht eine aktive Rolle der Kommunen bei der Gestaltung der Innenstädte wie etwa bei der Umwidmung und Gestaltung von Gewerbeflächen, dass beispielsweise in den Gebäuden unten Kitas entstehen können, in der Mitte Wohnungen und oben ein Freizeitprojekt oder ein medizinisches Versorgungszentrum. Oder über Auflagen: Wenn große Ketten oder marktbeherrschende Unternehmen in den Innenstädten bleiben oder eine Rolle spielen wollen, müssen sie einen echten Mehrwert für ihre Lebensqualität belegen.

Die Revitalisierung der Innenstadt: Wien und Paris machen es vor

Dafür muss die Politik die Regeln und Rahmenbedingungen ändern. So wie es Wien macht. In der österreichischen Metropole, seit Jahren führend im Ranking der lebenswertesten Städte weltweit, entsteht das laut IKEA „innovativste Einrichtungshaus“ des Unternehmens. Das schwedische Einrichtungsunternehmen verzichtet mit dem neuen „Hus“ auf Autoparkplätze und setzt stattdessen auf Klimaschutz, eine öffentliche Dachterrasse und viel Grün. 350.000 Autofahrten und 1000 Tonnen CO2 sollen so im Jahr eingespart werden. Die „Generation Greta“ soll Teil der IKEA-Familie werden. In eine ähnliche Richtung gehen die Pläne für das Kaufhaus Karstadt am Berliner Hermannplatz. Danach sind Ladenflächen nur noch im Erdgeschoss vorgesehen. Darüber soll es eine Mischung aus Büros, Wohnungen, Sportangeboten und eine Kita geben. Die Außenfassade soll originalgetreu nach dem zerstörten Vorgängerbau aus den zwanziger Jahren wiederhergestellt werden, um an den architektonischen Glanz aus der besten Zeit der Warenhäuser zu erinnern und zu nutzen. Wo sich Berlin noch gegen das Projekt sperrt, ist Recklinghausen dabei, ein ähnliches Vorhaben zu realisieren. Auch dort wird es im alten Kaufhaus nur noch im Erdgeschoss Läden geben, auf den restlichen Flächen entstehen Seniorenwohnungen, Büros, ein Hotel und eine Kita.

Längst weiter ist Paris. Die französische Hauptstadt gehört zu den teuersten Metropolen und greift bereits seit 2004 massiv in den Markt ein, um die Verödung seiner Innenstadt zu bekämpfen. Stadtrat und Wirtschaftsförderung haben einen Aktionsplan verabschiedet und eine gemeinnützigen Verband gegründet, um den stationären Einzelhandel durch eine „Revitalisierung“ zu stärken. Verlassene Geschäfte werden aufgekauft und zu günstigeren Konditionen vermietet und Einzelhändler mit digitalen Start-ups zusammengebracht. So lernen die Händler, wie sie sich auf digitalen Plattformen und Seiten eintragen und besser vermarkten. Hunderte kleine Händler profitieren seitdem von den neuen „Vitalquartieren“. Die zuständige Stadträtin Olivia Polski macht eine einfache Rechnung auf: „Wenn wir nur fünf Prozent der Ladenzeile in einer Straße an interessierte Einzelhändler verpachten, dann gelingt es nach und nach, die frühere Mono-Aktivität durch ein vielfältiges Einkaufsangebot zu ersetzen.“ Besonderen Revierschutz hat der Buchhandel. Über 50 Buchläden werden im städtischen Auftrag verwaltet. Paris erfindet sich neu und setzt dabei international auf PR und Marketing und neun Großprojekte, die das Paris der Zukunft prägen sollen. Die Pariser Strategie der Revitalisierung der Innenstadt hat sich inzwischen auch die Macron-Regierung zum Vorbild für ihr „Stadtherz-Projekt“ genommen. Mit fünf Milliarden Euro sollen 222 französische Städte und ihre Zentren neu belebt werden. Bei der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr werden sich Emmanuel Macron und die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo gegenüberstehen. Neben dem Schutz des lokalen Einzelhandels setzt Hidalgo bereits vor Corona auf mehr und schnellere Radwege und das Konzept der „15 Minuten-Stadt“, wonach innerhalb von einer Viertelstunde die täglichen Bedarfe wie Arbeit, Gesundheit und Freizeit möglichst mit dem Rad erledigt werden sollen. 60.000 innerstädtische Parkplätze sollen weichen und durch Grünflächen, Spielplätze und Radwege ersetzt werden. Vor kurzem hat die Stadt für die meisten Straßen deshalb auch Tempo 30 eingeführt. Der Schutz und die digitale Unterstützung  des stationären Einzelhandels, mehr Klimaschutz, weniger Lärm und reduzierter bzw. langsamerer Autoverkehr – das ist der neue Mix in Paris.

Grün und digital: Ein neues Leitbild für die deutschen Kommunen

In der „Leipzig Charta zur nachhaltigen Europäischen Stadt“ haben sich die EU-Bauminister im Jahr 2007 für eine Stärkung der Städte nach dem Leitbild der Europäischen Stadt ausgesprochen. Ihren Zielen der „funktionalen Vielfalt“ und „urbanen Dichte“ stehen bis heute etliche Bestimmungen entgegen. Die deutschen Kommunen brauchen eine grundlegende bundesgesetzliche Reform des Städtebaurechts, „welches die Ziele einer zukunftsfähigen Stadtplanung nicht nur ausnahmsweise ermöglicht, sondern sie als Kernbestand des Bauplanungsrechts definiert“, wie es der Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg, Markus Müller, jüngst treffend beschrieben hat. Das Nebeneinander von Wohnen, Gewerbe und Handel und die Stadt der kurzen Wege sind bislang nur in den wenigsten Kern- und Innenstädten baurechtlich zulässig.

Die Revitalisierung der Innenstadt gilt es mit der anstehenden digitalen und ökologischen Transformation zu verbinden. Der Klimawandel und die digitale Transformation sind eine Chance für den Umbau der Städte. Das Leitbild der gesunden und grünen Stadt setzt auf Trinkwasserbrunnen, Sitzbänke, Gärten, Bauernmärkte und Fitnessplätze auch im Freien. Bei der künftigen Förderung von Smart City-Projekten müssen lokaler Handel, Gewerbe und Regionalmarketing digital und ökologisch stärker berücksichtigt werden. Klimaneutrale und digitale Lieferdienste sollten zum Standard werden, Handel, Gewerbe und Start-ups stärker zusammenarbeiten. Es geht um smarte urbane Lösungen, die Shopping und Services mit der neuen Sehnsucht nach Sinn ihrer Einwohner verbinden. Nicht nur in den Großstädten, sondern auch in den Klein- und Mittelstädten. Gemeinsam genutzte Städte sind sicherere Orte, weil ihre Bewohner gelassener und gesünder sind. Die Innenstädte haben ihre beste Zukunft noch vor sich.