
Ingolstadt
„Landmarks“ – Hauswände als Kunstwerke
Die Zeiten, in denen Graffiti grundsätzlich als Vandalismus verurteilt wurde, sind längst vorbei, dennoch hat die Bemalung von Wänden, auf Englisch die „mural art“ in deutschen Kommunen immer noch Seltenheitswert. In Ingolstadt ist das anders. Graffiti-Kunst wird dort bereits seit etlichen Jahrzehnten positiv begleitet und unterstützt. Nun ist mit dem Projekt „Landmarks“ ein Prestige-Projekt entstanden, das internationale Künstler in die bayerische Kommune holt und prägnante Akzente im Stadtbild setzt. Der Erfolg ist schon jetzt groß, dabei steht das Projekt erst am Anfang.
Graffiti als wichtige Form der Jugendkultur
Entstanden ist das heutige Projekt „Landmarks“ als Ergebnis einer jahrzehntelangen Jugendarbeit zu diesem Themenbereich. „Graffiti-Kunst war bei uns schon in den 80er ein Schwerpunkt bei der Jugendarbeit vor Ort und wir wollten diese Form der Jugendkultur früh aus der illegalen Schmuddel- und Kriminalitätsecke rausholen“, erzählt Stefan Moser, der Geschäftsführer des Stadtjugendrings in Ingolstadt. Dieser ist als freier Träger und Auftragnehmer der Stadt eng verbunden mit der Kommune und übernimmt den Bereich der kommunalen Jugendarbeit.
Legale Graffiti-Flächen für Jugendliche in der Stadt
Um den Jugendlichen eine Möglichkeit zu geben, ihr Hobby auf legalem Wege auszuüben, war Ingolstadt laut Moser Ende der 90er die erste Stadt, die eine Vereinbarung über legale Graffiti-Flächen getroffen und bestimmte Wände bewusst ausgewiesen hat. „Auf den legalen Flächen kann jeder sprayen zu jeder Tages- und Nachtzeit“, sagt Moser und viele Jugendliche würden von diesem Angebot Gebrauch machen. Für die Stadt hat sich diese offensive Vorgehensweise bewährt. Zwar gibt es immer noch eine gewisse Problematik mit illegalen Sprayern, im Vergleich zu anderen Kommunen aber sei die Anzahl der Vorfälle deutlich geringer, wie Moser sagt.
„Grande Schmierage“ – beliebtes Projekt vor Corona
Neben dem Angebot für die Ingolstädter Jugendlichen hat das Team vom Stadtjugendring zudem die sogenannte „Grande Schmierage“ ins Leben gerufen, ein Graffiti-Event, bei dem international bekannte Künstler in Ingolstadt zusammen gekommen sind, um in der sogenannten „Hall of Fame“, einer Unterführung, ein gemeinsames Kunstwerk entstehen zu lassen. „Die Grande Schmierage war ein Riesenerfolg und wurde begeistert aufgenommen“, erzählt Moser. Dann allerdings kam die Corona-Pandemie und waren Großevents mit vielen Menschen auf engem Raum nicht mehr möglich
„Tour de Schmierage“ – Notlösung wird zum Erfolg
Angesichts der Pandemie und der engen Kontaktbeschränkungen entstand die Idee, statt der Spray-Party in der Unterführung eine „Tour de Schmierage“ zu veranstalten, bei der je Wand nur zwei Künstler unter freiem Himmel zusammenarbeiten. „Wir wollten damals jeweils einen etablierten Künstler mit einem Nachwuchskünstler gemeinsam eine Wand gestalten lassen und haben hierfür öffentlich nach Wänden gesucht“, erzählt Moser. Die Reaktionen auf den Aufruf waren enorm: „Innerhalb von nur einer Woche wurden uns über 30 Wände angeboten von Privatpersonen, Hauseigentümern und der GWG“ und letztlich hätten sie über 60 Wände zusammengetragen, so der Geschäftsführer. Einige davon wurden in Folge kreativ gestaltet – zur großen Begeisterung der Bevölkerung. „Das hat dermaßen eingeschlagen, dass uns klar war: Diesen Drive und Hype und diese öffentliche Akzeptanz dürfen wir nicht verkommen lassen und müssen wir unbedingt weiterentwickeln“, so Moser. So entstand schließlich die Idee zum Projekt „Landmarks“.
„Landmarks“ – ein offenes Museum in der Stadt
Auch beim Projekt „Landmarks“ steht die Gestaltung einer öffentlich sichtbaren Fläche im Mittelpunkt, nun aber werden hierzu international renommierte Künstlerpersönlichkeiten eingeladen, die jeweils eine ganze Wand zur Verfügung haben, um dort ihr individuelles Kunstwerk entstehen zu lassen. Um sicherzustellen, dass die Wandgemälde über einen längeren Zeitraum – konkret mindestens 10 Jahre – bestehen bleiben, hat der Stadtjugendring für das Projekt die Gemeinnützige Wohnungsbau-Gesellschaft Ingolstadt GmbH, kurz GWG, als Partner mit ins Boot geholt, die laut Moser zahlreiche Fassaden aufgeführt hat, die gestaltet werden können. Als Sponsor konnte u.a. die Sparkasse Ingolstadt gewonnen werden, Kurator des Ganzen ist der Künstler Rafael Gerlach, ein „internationaler Türöffner“, wie Moser sagt.
Intensive Betreuung der Künstler
Ursprünglich versteht man unter dem Begriff „Landmark“ ein auffälliges, weithin sichtbares topographisches Objekt und ähnlich markant und ins Auge stechend sollen auch die Wände sein, die beim gleichnamigen Projekt in Ingolstadt entstehen. Seit 2022 werden jeweils drei bis vier Flächen pro Jahr gestaltet, „mittlerweile sind wir bei Wand Nr. 9 und haben neun international renommierte Künstler nach Ingolstadt geholt“, so Moser. Die Rahmenbedingungen sind klar abgesteckt: Die Künstler bekommen für ihre Arbeit eine Aufwandsentschädigung von 4000 Euro, außerdem werden die Fahrt-, Übernachtungs- und Materialkosten übernommen. Circa acht bis zehn Tage bleiben die Künstler vor Ort, während dieser Zeit bekommen sie eine intensive Betreuung durch das Landmarks-Team.
Künstlerische Freiheit steht an erster Stelle
Bevor ein Künstler mit seiner Arbeit beginnt, darf er sich eine Wand aussuchen. „Wand und Künstler müssen zusammenpassen“, sagt Moser und einer der zentralen Aspekte von „Landmarks“ sei nicht zuletzt die künstlerische Freiheit, die den Künstlern gewährt werde. Abgesehen von den Einschränkungen, dass keine Gewalt, kein Extremismus, kein Sexismus und kein Alkohol dargestellt werden darf, seien die Künstler in ihrer Gestaltung der Wände vollkommen frei und ließe man sich überraschen, welches Kunstwerk letztlich die Wand zieren wird. Für die Künstler hat das einen enorm großen Wert, wie Moser feststellt: „Landmarks ist eines der ganz wenigen Projekte, bei dem die Künstler, die ansonsten zumeist Auftragswerke machen, tatsächlich absolute künstlerische Freiheit haben“, so der Geschäftsführer.
Positive Resonanz für
Die bei „Landmarks“ bislang entstandenen Wand-Kunstwerke sind ausgesprochen unterschiedlich, wobei Moser feststellt, dass die meisten Künstler versuchen würden, einen gewissen Ortsbezug herzustellen und bewusst ein Bild für Ingolstadt zu schaffen. Ehemals aus Veranstaltungen der Jugendkultur heraus entstanden, profitieren die Jugendlichen auch heute von dem Projekt. „Die jungen Sprayer haben bei Landmarks einen Spitzenkünstler vor Ort, mit dem sie in Kontakt kommen und den sie bei der Arbeit beobachten können“, so Moser. Das sei für viele eine große Chance. Auch in der restlichen Bevölkerung gäbe es eine breite Akzeptanz für das Projekt.
„Vor allem die Bewohner der bemalten Häuser begrüßen das sehr“, so Moser, und gerade in prekären Stadtteilen, wo jedes Haus gleich aussehe, seien die bunten Wegmarken eine willkommene Abwechslung und identitätsstiftend für die jeweiligen Quartiere. Darüber hinaus schlägt das Projekt zunehmend auch über die Stadtgrenzen hinaus Wellen, wie Moser feststellt. „Wir haben damit eine frei zugängliche öffentliche Galerie eröffnet, die immer mehr auch zu einer touristischen Attraktion werden kann“, so der Leiter des Stadtjugendrings. Bald schon soll es eine Extra-Beschilderung der Wandgemälde geben und eine spezielle Stadtführung dazu. Die nächsten Künstler stehen schon in den Startlöchern.
Mehr Infos zum Projekt "Landmarks" hier