Demokratie
Zukunftsschock – Demokratie ist eine Frage der Emotionen
Was ist für Sie das „Wort des Jahres“? Jedes Jahr entscheidet die Gesellschaft für deutsche Sprache über das Wort, das unser Jahr auf einen Begriff bringen soll. 2024 heißt es „Ampel-Aus“, gefolgt von „kriegstüchtig“. Für einen Zukunftsforscher ist ein Jahr kein Zeitraum. Sie beschäftigen sich mit Zeiträumen und Epochen. Für Soziologen wie Andreas Reckwitz ist "Kontrollverlust" der Begriff unserer Zeit. Menschen geraten in Stress, wenn sie mit Situationen konfrontiert sind, die sie nicht verstehen. Diese Situationen haben in den letzten 30 Jahren drastisch zugenommen: Globalisierung, Migration, Corona, Künstliche Intelligenz, Krieg auch in Europa.
Die Krankheit des Wandels
„Zukunftsschock“ trifft es vielleicht besser. Der US-Futurologe Alvin Toffler prägte den Begriff bereits vor mehr als 50 Jahren als „Reaktion des Menschen auf Überstimulation“. Fast alle sozialen Probleme unserer Zeit seien, so Toffler, auf die steigende Geschwindigkeit des technologischen Wandels zurückzuführen. Gibt es ein Rezept gegen die „Krankheit des Wandels“? Wir haben zunehmend das Gefühl, dass uns die Dinge entgleiten und wir keinen Einfluss auf sie ausüben können. Eine Krise jagt die nächste. Gibt es einen Ausweg, eine Alternative zum Ausstieg, können wir unser öffentliches Leben wieder in den Griff bekommen? Exit, der Ausstieg aus der Zukunft, ist eine verständliche Reaktion auf die Komplexität einer modernen vernetzten Welt. Die Brexit-Kampagne hatte vor acht Jahren Erfolg, weil die den Briten das Gefühl gab, sie könnten „die Kontrolle wieder selbst übernehmen“.
Gut 200 Jahre nach dem Beginn der modernen Demokratie steht das Modell auf der Kippe. Das „Jahrhundert des Autoritarismus“, vom deutschen Soziologen Ralf Dahrendorf bereits Ende der Neunzigerjahre prognostiziert, gewinnt immer mehr Anhänger. Das Mantra des US-Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama vom »Ende der Geschichte« hat sich als Irrtum entpuppt. Mit dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der DDR begann nicht der ungebremste Siegeszug der liberalen Demokratie und der grenzenlose Zukunftsoptimismus. Die Wiederwahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten Anfang November 2024 hat gezeigt, dass sich der autoritäre Megatrend im Kernland der Demokratie fest etabliert hat. Auch in Europa glauben immer weniger Bürgerinnen und Bürger, dass die Zukunft eine bessere Version der Gegenwart ist. Viele sehen China als Gewinner der Krisenwelt und glauben, dass Demokratien zu langsam sind, um im 21. Jahrhundert mit den neuen Autokratien konkurrieren zu können.
Demokratien sind ökonomisch erfolgreicher
Dabei sprechen die Fakten eine andere Sprache. Langfristig betrachtet sind Demokratien ökonomisch erfolgreicher als Autokratien. Ihr jährliches Wirtschaftswachstum ist höher, eben weil Demokratien auf freie und faire Wahlen, Presse- und Versammlungsfreiheit setzen. Demokratie ist ein Motor für Wachstum, Fortschritt und Frieden. In Demokratien sterben weniger Menschen, schrieb der Economist zu Beginn der Coronapandemie vor vier Jahren. Demokratien tragen zum weltweiten Frieden und Wohlstand bei. Die Kriege zwischen den Staaten sind seit 1945 weltweit zurückgegangen. Zwischen 1945 und 2005 ist das Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum in jenen Ländern, in denen Frieden herrscht, dreimal höher ausgefallen als in jenen, in denen dies nicht der Fall war. Allein in den vergangenen 10 Jahren hat sich der Unterschied auf den Faktor sieben erhöht.
Offene Volkswirtschaften und Gesellschaften sind wohlhabender und reduzieren extreme Armut wirkungsvoller als protektionistische und geschlossene Ökonomien und Gesellschaften. Der aus Indien stammende Nobelpreisträger für Ökonomie Amartya Sen hat in seinen Studien nachgewiesen, dass in Demokratien nicht gehungert wird. Der Unterschied zwischen einer Demokratie und einer Diktatur ist sogar vom Weltraum aus zu sehen: Ein nächtliches Satellitenbild von Korea zeigt den kapitalistischen Süden hell erleuchtet und den kommunistischen Norden in nahezu totaler Finsternis.
Die Abschaffung der Zukunft
Schon die Philosophen und Vordenker der amerikanischen Verfassung, Charles-Louis de Montesquieu und Alexis de Tocqueville, warnten davor, dass sich die Mittelschichten für die Despotie entscheiden könnten, wenn sie sich von der politischen Klasse nicht mehr verstanden und abgehängt fühlen. Je mehr sich Bürgerinnen und Bürger von der Politik ignoriert oder vergessen fühlen, umso mehr ziehen sie sich zurück – und umso empfänglicher werden sie für Alternativen. »Demokratien sterben, wenn die Menschen nicht mehr daran glauben, dass das Wählen wichtig ist«, wie der Historiker Timothy Snyder in seinem Buch "Der Weg in die Unfreiheit" schreibt. Die Stärke der neuen Autokraten ist vor allem die Schwäche der Demokraten. In einer »alternativlosen Demokratie« ist niemand verantwortlich, weil Zukunft als unausweichlich und nicht im Plural gilt. Und in der Autokratie ist niemand verantwortlich, weil nur die Regierung uns nur vor Bedrohungen und Feinden schützen kann. Beide, die alternativlose Demokratie wie die neue Autokratie, schaffen die Zukunft ab. Der einzige Unterschied: Die Autokraten schaffen sie offen ab. Autokraten brauchen ängstliche Fans, die sich als verlierende Außenseiter sehen.
Die Geschichte lehrt uns, dass sich Staaten nicht von außen demokratisieren lassen. Demokratie muss von innen gewollt und erreicht werden. Demokratie ist mehr als eine Regierungsform, sie ist auch eine Lebensform. Dass sie täglich erneuert werden muss, wussten bereits die antiken Vordenker. Demokratie muss erlebbar und konkret erfahrbar sein. Die Zukunft der Demokratie entscheidet sich in den Regionen, Städten und Gemeinden vor Ort.
Politik für die nächste Generation
Demokratie ist auch eine Frage der Emotionen. Ein gemeinsames Gefühl der Zugehörigkeit und Identität ist die stärkste Waffe gegen Zukunftspessimismus und Populismus. Die grundlegende Schwäche von Demokratien ist, dass sie nicht in der Lage sind, 20 bis 40 Jahre in die Zukunft zu denken. Die Schwäche der Demokratie ist ihr Präsentismus, ihr kurzfristiger Handlungshorizont und ihr Denken in Wahlzyklen. Die Interessen von ad hoc agierenden Interessengruppen haben es leichter, die Interessen künftiger Generationen schwerer. „Der Politiker denkt an die nächsten Wahlen, der Staatsmann an die nächste Generation“, wusste der britische Premierminister William Ewart Gladstone Ende des 19. Jahrhunderts.
Wir haben die Möglichkeiten, die Demokratie zu verteidigen, noch lange nicht ausgeschöpft. Statt um Alternativen zur parlamentarischen Demokratie, geht es um ihre Weiterentwicklung, um innovative Verfahren und Instrumente der Beteiligung und des Mitgestaltens. Statt den Bürgern von oben herab zu sagen, was sie zu tun haben, geht es darum, sie zum Mitmachen einzuladen. In einer Co-produktiven Demokratie haben Bürger die Freiheit, Neues auszuprobieren und ihre Ideen mit der gesamten Gesellschaft zu teilen. Erst wenn Bürger das Gefühl haben, selbst etwas bewirken zu können, ist Demokratie erfolgreich. Gelebter Republikanismus heißt: „Frage nicht, was Dein Land für Dich tun kann. Frage, was Du für Dein Land tun kannst“ (John F. Kennedy in seiner Antrittsrede im Jahr 1961). Und weiter: „Fragt nicht, was Amerika für euch tun wird, sondern fragt, was wir gemeinsam tun können für die Freiheit des Menschen.“ Freiheit, Demokratie und das Engagement für beide gehören zusammen.
Demokratie lebt von dem Glauben an eine offene und bessere Zukunft. Für Immanuel Kant, den großen Denker der ersten Aufklärung, ist „der ewige Frieden“ dann möglich, wenn die Völker den Übergang zur Republik schaffen und sich untereinander vernetzen. Vernetzen heißt verbinden und konkret Verantwortung für Veränderungen übernehmen. Die Sprache der Zukunft müssen wir gemeinsam lernen und leben. Nur dann werden wir wieder den Wandel kontrollieren und die Zukunft retten.