Flüchtlingsunterkunft
Eine von mehreren Flüchtlingsunterkünften in Niederzier - weitere sind im Bau.
© Gemeinde Niederzier

Flüchtlinge

Ein Bürgermeister: "Am Rande unserer Kräfte"

Seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs herrscht in der Gemeinde Niederzier aus Sicht des Bürgermeisters der Ausnahmezustand. Hohe Flüchtlings-Zuweisungen und geringe Ressourcen bringen die Kommune an die Grenzen und gefährden die Stimmung im Ort.

„Was wir 2015 erlebt haben, war im Vergleich zu der Lage jetzt überspitzt gesagt ein Kindergeburtstag“, sagt Frank Rombey und ringt mit den Worten. Er ist der Bürgermeister der Gemeinde Niederzier in Nordrhein-Westfalen und erlebt die Aufnahme und Integration der Geflüchteten im Ort als kaum mehr bewältigbar. Dabei ist die Tagbaukommune mit 14.600 Einwohnern, verteilt auf sieben Ortschaften, ein ausgesprochen sozialer und offener Ort, wie Rombey betont. „82 verschiedene Nationen leben hier – darauf sind wir sehr stolz“, sagt er. Vielfalt sei überaus erwünscht. Die große Anzahl an Geflüchteten aber, die Niederzier zugewiesen werden, überlaste den gesamten Ort. „Ich möchte die Menschen menschenwürdig unterbringen und integrieren können“, sagt Rombey – im Moment könne davon keine Rede mehr sein.

Bis 2022 Integrationsarbeit erfolgreich

Seit 2015 wurden der Gemeinde laut Rombey rund 850 Menschen zugewiesen, aktuell sind etwa 700 Geflüchtete im Ort, die in dezentralen Unterbringungen in verschiedenen Ortschaften untergebracht sind. „Wir haben schon bei der damaligen Flüchtlingskrise sämtlichen Wohnraum angemietet“, sagt der Bürgermeister. Die meisten der Geflüchteten von damals seien hier geblieben und mittlerweile gut integriert, hätten Arbeit gefunden und selbst die Wohnungen übernommen. „Bis Februar 2022 konnten wir hier eine gute Integrationsarbeit leisten durch Hauptamtliche und eine gute Ehrenamts-Struktur“, erzählt Rombey. Durch den Ukraine-Krieg habe sich das schlagartig geändert. Alleine 2022 und 2023 wurden Niederzier mehr als 500 Menschen zugewiesen – aus Sicht von Rombey schlicht zu viele, um die Integration noch zu stemmen.

Frank Rombey
Frank Rombey, Bürgermeister von Niederzier

Integrationsarbeit kaum noch möglich

„Unsere kommunale Infrastruktur kann nicht so schnell wachsen, wie die Menschen zu uns kommen – es braucht hier eine Grenze“, sagt Rombey. Im Moment würde nur mehr die Obdachlosigkeit vermieden, an echte Integrationsarbeit sei nicht mehr zu denken. Rund 160 Menschen aus der Ukraine sind zwischenzeitlich in Niederzier eingetroffen, auch die Zahl der weiteren Geflüchteten steigt. Ein großes Problem seien zudem die 90 Geduldeten in der Gemeinde, die keinerlei Bleibeperspektive hätten und dennoch Unterkunft brauchen.

Knapper Wohnraum erhöht Druck vor Ort

Mit 90 Prozent Einfamilienhäusern ist der Wohnraum in Niederzier ohnehin knapp. „Im Jahr 2020 hatten wir 620 Bewerbungen für Baugrundstücke, nur 30 davon konnten wir bedienen – das zeigt, wie die Lage am Wohnungsmarkt ist“, so Rombey. Hinzu komme die Überlastung des Personals, sowohl der hauptamtlichen als auch der zivilgesellschaftlichen Kräfte. „Die Ehrenamtlichen sind müde und überfordert“, sagt Rombey, und die Bereitschaft, sich einzusetzen, schwinde angesichts der hohen Zahlen.

Große Bauprojekte in Gang

„Keine Unterbringung in Bürgerhäusern und Turnhallen“ – so lautete ein eindeutiger Ratsbeschluss in Niederzier. Um neue Räume für die Geflüchteten zu schaffen, hat die Kommune stattdessen große Bauprojekte in Angriff genommen. In sechs Ortsteilen der Gemeinde wurden Wohncontainer-Dörfer eingerichtet, zudem werden aktuell zwei Dauereinrichtungen gebaut, die bald bezugsfertig sein werden. „Wir haben für diese Maßnahmen einen Kredit von 6,1 Millionen aufgenommen und nur 371.000 Euro vom Land bekommen“, sagt Rombey, der sich sowohl organisatorisch als auch finanziell alleine gelassen fühlt. „Wir brauchen mehr Geld, mehr Unterbringungen und mehr personelle Unterstützung, wenn wir das weiterhin schultern sollen“, so Rombey.

Angespannte Stimmungslage im Ort

Zweimal konnte in Niederzier bislang ein Aufnahmestopp erwirkt werden, die Suche nach Wohnraum geht laut Rombey gleichwohl ständig weiter. Besondere Sorge bereitet dem Bürgermeister die Atmosphäre im Ort. „Die Stimmung im Ort ist angespannt und schwierig, auch bei gemäßigten Leuten“, sagt Rombey, und eine derartige Dauer-Überlastung sei langfristig hochexplosiv für die Gemeinschaft der Bürger. Noch sei es zu keinen extremen Vorfällen gekommen und könne der Frieden im Ort gewahrt werden. „Aber es lastet ein derartiger Druck auf uns, dass ich großen Respekt und große Sorge habe, was den sozialen Zusammenhalt in der nahen Zukunft anbelangt“, so Rombey.

Zuspruch von vielen Bürgermeister-Kollegen

Frank Rombey bekommt nach einem TV-Talkshow-Auftritt nach eigener Aussage von Kollegen aus ganz Deutschland Unterstützung. „Ich habe unzählige Anrufe und Emails erhalten und viele meiner Bürgermeisterkollegen meinten, ich hätte ihnen aus der Seele gesprochen.“ Dabei ist es Rombey ein großes Anliegen, extremistischen Strömungen klar entgegenzuwirken. „Das Thema ist hochsensibel und ich möchte auf keinen Fall polarisieren. Stattdessen wollen wir helfen und helfen schon jetzt über das Maß hinaus“, betont Rombey, der sich selbst als parteilos, aber SPD-nah einstuft. Allerdings sei ein Punkt erreicht, an dem es definitiv Lösungen in der großen Politik brauche. „In der Kommune können wir das nicht mehr leisten“, sagt Rombey.

Fotocredits: Gemeinde Niederzier