Polarisierung der Gesellschaft
Neues Vertrauen über Bürgerbeteiligung schaffen
Der Standort könnte idealer nicht sein für eine neue große Industrieansiedlung in Deutschland: Ganz in der Nähe: Autobahn und Bahn, auch zum Flughafen Leipzig ist es nicht weit. Und es gibt noch genügend freie Flächen, um zu bauen. Eine solche Gelegenheit ist für Wirtschaftsförderer so etwas wie ein Sechser im Lotto. Der Freistaat Sachsen hat in der Gemeinde Wiedemar gefunden, was er gesucht hat: Auf 400 Hektar könnte hier ein Industriegebiet für Hochtechnologie-Unternehmen in Mitteldeutschland entstehen. Der Landkreis Nordsachsen unterstützte das ambitionierte Vorhaben und auch der Gemeinderat Wiedemar sprach sich nach längerer Diskussion mehrheitlich dafür aus. Er beschloss: Zwischen den Ortsteilen Pohritzsch, Zschernitz und Storkwitz soll ein sogenanntes Industrie-Vorsorgegebiet ausgewiesen werden.
Bürgerentscheid gegen Industriegebiet
Aus dem industriellen Leuchtturm in der Wirtschaftsregion Halle-Leipzig wird jedoch erst einmal nichts. Denn als der Bebauungsplan aufgestellt werden sollte, hagelte es massive Proteste. Bei einem Bürgerentscheid stimmten knapp 66 Prozent gegen den Satzungsbeschluss zum Bebauungsplan. Bürgermeister Steve Ganzer zeigte sich enttäuscht: „Wir wollten die Weichen dafür stellen, dass sich Unternehmen wie Intel bei uns ansiedeln können, Hochtechnologien wie die Chipproduktion bis zu Batteriezellenfertigung, Medizin- und Pharmatechnik sollten bei uns einen Platz finden.“ Steve Ganzer bedauert:„Die unbegründete Angst vor einem Leuna II machte die Runde“. Das sachsen-anhaltinische Leuna war einst der größte Chemiebetrieb der DDR. Heute sind an diesem Industriestandort rund 12.000 Arbeitskräfte beschäftigt. Auch in Wiedemar sollten neue Arbeitsplätze entstehen. „Die Mehrheit unserer Bürger und Bürgerinnen hat sich für das Landleben entschieden und gegen eine erfolgsversprechende wirtschaftliche Zukunft unserer Gemeinde“, sagt Bürgermeister Ganzer und ergänzt: „Damit wurde eine Riesenchance vertan.“
„Es wurde eine Riesenchance vertan.“
Gesellschaftliches Klima ist rauer geworden
Schon immer hat es Interessenskonflikte auf kommunaler Ebene gegeben. Windkraft ja, aber nicht bei mir, heißt es immer noch vielerorts. Was sich geändert hat: Das gesellschaftliche Klima ist rauer geworden. Bürgermeister und Bürgermeisterinnen stoßen bei der Umsetzung ihrer Ziele teils auf erbitterten Widerstand. Protest-Kampagnen auf Social Media torpedieren die Kommunikation, hasserfüllte Anfeindungen gegen Kommunalpolitiker sind an der Tagesordnung. Krisen wie die Corona-Pandemie, der Angriff Putins auf die Ukraine, der sich zuspitzende Krieg in Nahost und der Umgang mit dem Klimawandel und ihre Folgen polarisieren die Gesellschaft. Wie sehr das Vertrauen zwischen Bürgern und Staat angeknackst ist, zeigt sich bei Meinungsumfragen und offenbarte sich bei den jüngsten Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Bei der Landtagwahl in Sachsen wählten in der Gemeinde Wiedemar die meisten die AfD, sie holte 34,9 Prozent der Zweitstimmen, die CDU, die Partei von Bürgermeister Ganzer folgte mit 33,6 Prozent knapp dahinter. Gerade junge Menschen scheinen von den etablierten Parteien enttäuscht.
Bürgerbeteiligung und Planungssicherheit für Kommunen
Wie kann Kommunikation in so aufgeheizten Zeiten gelingen? Und wie können Kommunen ihre Bürgerinnen und Bürger an der Entwicklung ihres Ortes beteiligen und gleichzeitig Stillstand vermeiden? Diese Fragen beschäftigen die Kommunalpolitiker deutschlandweit. Darum geht es derzeit auch am Runden Tisch der Bayerischen Staatskanzlei. „Dort sprechen wir darüber, wie Bürgerbegehren weiterentwickelt werden können und gleichzeitig die Kommunen mehr Planungssicherheit bekommen und damit Verfahren zügiger umgesetzt werden können“, sagt Susanne Socher, zuständig für Beratung und kommunale Demokratie beim Verein „Mehr Demokratie“.
Für die Aktivistin für Bürgerbegehren steht fest: „Wir sind in einem Kulturwandel. Nicht mehr die Bürgermeister entscheiden, die Bürger sind selbstbewusster geworden. Kommunikation spielt eine andere Rolle als vor ein paar Jahren, darauf muss auch die Kommunalpolitik reagieren“, sagt Socher. Sie rät: „Die Bürger sollten noch früher beteiligt werden.“ So könnte so manche Dynamik verändert werden. Der Dialog müsse aber beidseitig verbessert werden. Susanne Socher tritt für einen Bewusstseinswandel ein. „Vielen wird schon jetzt klar, dass man nicht immer so hart streiten muss, man kann auch wertschätzend miteinander umgehen“.
Der Dialog zwischen
Bürgern und Kommunen muss
beidseitig verbessert werden.“
Social Media ist bekannt dafür, dass man schnell angreifen und dann in der Anonymität verschwinden kann. „Anders ist es, miteinander am Tisch zu sitzen. Ich rate auch Bürgerinitiativen davon ab, sich eine Facebookseite zuzulegen und die Auseinandersetzung über die sozialen Medien zu führen“, sagt Socher. Deshalb sei es so wichtig, dass Kommunen Räume schaffen, wo die Menschen sich austauschen können. Der Verein „Mehr Demokratie“ setzt sich für einen wertschätzenden Dialog ein. Der müsse erlernt werden, meint Socher. So brachte der Lobbyverband im Superwahljahr 2024 ein spannendes, neues Format nach Brandenburg – in Zusammenarbeit mit Kommunen, Verbänden und Bürgerinitiativen. Es nennt sich „Sprechen & Zuhören“.
Neues Format in Brandenburg - Dialog fördern
In 30 Gemeinden kommen Menschen in Dreier-Grüppchen zusammen und hören sich jeweils vier Minuten gegenseitig zu, ohne unterbrochen zu werden. Die Treffen werden moderiert. „Das Format ist eine gute Vorbereitung für eine sachliche und inhaltlich politische Arbeit“, sagt Socher. In Bad Belzig ging es dabei zum Beispiel um die Nachwirkungen der Corona-Pandemie. Mehr als 40 Menschen teilten auf diese Weise ihre persönlichen Erlebnisse im Zusammenhang mit der Pandemie.
In Hinblick auf drohende Einschränkungen beim Bürgerentscheid in Bayern, Hessen und Schleswig-Holstein warnt Socher davor, Regeln der Bürgerbeteiligung einzuschränken. Es gehe vielmehr darum, sie weiterzuentwickeln. „Ich erlebe, dass Bürgermeister oft in eine fast defensive Haltung gehen, wenn ein Bürgerbegehren kommt“, sagt sie. „Doch das ist immer auch eine Chance.“ Ohne Unterstützung tun die ohnehin überlasteten Kommunen sich bei dem aufwendigen Dialogprozess schwer. Baden-Württemberg hat daher eine Servicestelle „Dialogische Bürgerbeteiligung!“ für Verwaltung und kommunale Mandatsträger geschaffen. Dort werden die Behörden beraten und bei der Umsetzung unterstützt. Die Servicestelle bereitet die Bürgerbeteiligung vor und begleitet den Dialogprozess. Gegen Bezahlung stellt die Servicestelle ein Moderator und Technik bereit.
Dass Bürgerentscheide immer gegen die Pläne der Kommunen ausfallen, stimme nicht, sagt Socher. In Bayern etwa gingen bei sieben Bürgerentscheiden fünf für die Ansiedelung von Windkraftanlagen aus. „Die direktdemokratischen Verfahren aus der Praxis der letzten Jahre zeigen: Die Angst vor der direkten Demokratie auf Gemeindeebene ist sachlich nicht begründbar. "Man brauche nur den richtigen Hebel, um zu beschleunigen – und das sei ein professionelles Dialogverfahren, mehr Bürgerräte und in Teilen unbürokratischere Vorgaben. Wenn etwa in Bayern der Bürgerentscheid bei der Bauleitplanung nicht mehr zulässig sein würde, hätte dies mehr Klagen zur Folge, auch das verzögere Vorhaben, gibt sie zu bedenken.
Wiedemar setzte stark auf Kommunikation
In Wiedemar muss der Bürgermeister jetzt allerdings drei Jahre warten, bevor er einen neuen Anlauf nehmen kann, um die Weichen dafür zu stellen, Wirtschaftsunternehmen in den nächsten Jahrzehnten in die Gemeinde holen zu können. Er hat durchaus auf Kommunikation gesetzt, wie selbst ein Mitstreiter der Bürgerinitiative gegenüber KOMMUNAL bestätigte. „Wir haben drei Zukunftsforen veranstaltet mit Ministern und Wirtschaftsexperten, auch das Fraunhofer Institut war beteiligt. Es gab sechs Stammtische in den einzelnen Ortsteilen. Doch die Angst vor der Veränderung war größer, bedauert der Bürgermeister. Er glaubt, die Vorteile einer Industrieansiedelung hätten überwogen. Die Bürgerinitiative „Kein Industriegebiet zwischen Wiedemar- Brehna-Delitzsch“ kritisierte vor allem, dass für das Industrievorsorgegebiet sehr viel Fläche in Anspruch genommen werden sollte, zudem gab es die Angst, dass Fachkräften aus bestehenden Betrieben zu den neuen Arbeitgebern wechseln könnten. Außerdem befürchteten die Initiatoren erhebliche Beeinträchtigungen der Lebensqualität durch Bau- und später Industrielärm, Umweltbelastungen und zusätzlichen Verkehr.
Bürgermeister: Noch mehr Bürger und Bürgerinnen einbinden
„Die Angst vor Veränderung in einer gesättigten Gesellschaft macht es schwer, Deutschland voranzubringen“, sagt Bürgermeister Ganzer. „Wir müssen aber auch solche Entscheidungen fällen. Denn als Region sich einer wirtschaftlichen Ansiedelung zu versperren, bedeutet, die Finanzgrundlage für Bürgergeld, Elterngeld, Kindergeld und steuerfinanzierte Krankenhausfinanzierung zu entziehen.“ Sein Vorschlag: „Regional bedeutsame Vorhaben oder gar Vorhaben mit überregionaler Bedeutung sollten nicht allein von den betroffenen Bürgern eines Orts entschieden werden dürfen. „Ich halte es für wichtig und richtig, alle Bürger einzubinden, die von den Auswirkungen auch betroffen sind.“ Das würde bedeuten, Bürgerentscheide auf Landesebene zuzulassen. Bayern und Hessen erwägen derzeit, künftig große Infrastrukturvorhaben von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden auszuschließen.
Auch wenn der Wiedemarer Bürgermeister viel mit den Bürgern geredet hat, so sieht er in der Vorbereitung auf ein mögliches Industriegebiet dennoch eine Schwäche. „Kommunen sollten schon ganz früh solche Grundsatzdiskussionen mit den Bürgern führen. Wo wollen wir uns hin entwickeln? Wollen wir Raum für wirtschaftliche Ansiedlungen schaffen? Das sei auch in Wiedemar nicht schon vor vielen Jahren passiert.
1. Bürgerinnen und Bürger wollen sich einbringen. Auch die Protestbereitschaft gegenüber „hoheitlichen“ Planungen hat zugenommen.
2. Städtebau und Ortsplanung profitiert von der Perspektive derer, „die vor Ort wohnen“. Dies trägt auch zur nachhaltigen Akzeptanz und Optimierung des Projektes bei.
3. Wird Beteiligung von Anfang an mitgedacht, lassen sich Konflikte früh erkennen und durch die Einbeziehung in die Planung oftmals sogar auflösen.
4. Fehlende Legitimation durch Nicht-Beteiligen kann viel Geld kosten. Bürger können durch Proteste Bauprojekte verzögern oder verhindern.